BFH: Verzinsung von zu erstattenden Kapitalertragsteuerbeträgen

Ausländische Anteilseignergesellschaften, denen einbehaltene Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen nach Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie i. V. m. § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG a. F. (heute § 50c Abs. 3 Satz 1 EStG) zu erstatten ist, haben auf der Grundlage des Unionsrechts einen Verzinsungsanspruch, wenn ihnen die Erstattung der Steuerbeträge unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorenthalten wird oder die Kapitalertragsteuer von vornherein unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehalten wird. Dies entschied der BFH (Az. VIII R 32/21).

BFH, Pressemitteilung Nr. 30/25 vom 15.05.2025 zum Urteil VIII R 32/21 vom 25.02.2025

Ausländische Anteilseignergesellschaften, denen einbehaltene Kapitalertragsteuer auf Gewinnausschüttungen nach Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie i. V. m. § 50d Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) a. F. (heute § 50c Abs. 3 Satz 1 EStG) zu erstatten ist, haben auf der Grundlage des Unionsrechts einen Verzinsungsanspruch, wenn ihnen die Erstattung der Steuerbeträge unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorenthalten wird oder die Kapitalertragsteuer von vornherein unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehalten wird. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 25.02.2025 – VIII R 32/21 – entschieden.

Die Entscheidung dürfte eine beträchtliche finanzielle Tragweite für den Fiskus haben. In der Vergangenheit hatte das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) vielen ausländischen Anteilseignern die Erstattung von Kapitalertragsteuer unter Berufung auf § 50d Abs. 3 EStG (i. d. F. des Jahressteuergesetzes 2007 vom 13.12.2006, BGBl. I 2006 S. 2878, BStBl I 2007 S. 28) verweigert, was nach den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16 (EU:C:2017:1009) – jedoch gegen das Unionsrecht verstieß. In all diesen Fällen kann es nunmehr zur Festsetzung von Zinsen kommen.

Im Streitfall hatte eine deutsche Aktiengesellschaft (AG) Gewinnausschüttungen an eine österreichische Muttergesellschaft vorgenommen. Für drei der Gewinnausschüttungen wurde die Erstattung der von der AG einbehaltenen Kapitalertragsteuer im Erstattungsverfahren vom BZSt unter Verstoß gegen das Unionsrecht gemäß § 50d Abs. 3 EStG 2007 abgelehnt. Für eine weitere Gewinnausschüttung war der österreichischen Muttergesellschaft zunächst eine sog. Freistellungsbescheinigung erteilt worden, nach der die AG keine Kapitalertragsteuer hätte einbehalten müssen. Diese Freistellungsbescheinigung wurde vom BZSt unter Berufung auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 in unionsrechtswidriger Weise widerrufen. Das BZSt hatte nach Ergehen der EuGH-Entscheidung Deister Holding und Juhler Holding die Kapitalertragsteuer im Rahmen der zeitweise ruhenden Einspruchsverfahren erstattet. Die allein streitgegenständlichen Verzinsungsanträge der österreichischen Muttergesellschaft hatte es abgelehnt. Eine Verzinsung für erstattete Kapitalertragsteuerbeträge sei nicht zu gewähren, wenn die Steuer unter Abhilfe eines Einspruchs erstattet werde. Das Finanzgericht gab der Klage hingegen teilweise statt.

Der BFH entschied, dass der österreichischen Muttergesellschaft eine Verzinsung nach dem unionsrechtlichen Zinsanspruch zustehe. Der Zinslauf beginne in Fällen, in denen ohne ein vorheriges Freistellungsbescheinigungsverfahren die Erstattung der Kapitalertragsteuer beantragt und im Erstattungsverfahren in unionsrechtswidriger Weise vorenthalten werde, drei Monate nach der Einreichung eines formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags. Er ende mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags. In Fällen, in denen eine zunächst erteilte Freistellungsbescheinigung unter unionsrechtswidriger Bezugnahme auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 vom BZSt widerrufen werde, beginne der Zinslauf mit dem Tag des Einbehalts der Kapitalertragsteuer durch die AG und ende mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags. Schließlich klärte der BFH, dass die Zinsen für die jeweiligen Verzinsungszeiträume taggenau und für Verzinsungszeiträume vor dem 01.01.2019 mit 6 % p. a. zu berechnen sind.

Leitsatz

  1. Das zweigeteilte Verfahren des Kapitalertragsteuereinbehalts mit dem Erfordernis für den Anteilseigner, sich die Kapitalertragsteuer gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b des Einkommensteuergesetzes (EStG) antragsgebunden erstatten zu lassen, ist mit dem Unionsrecht grundsätzlich vereinbar.
  2. Erstattungsbeträge zur Kapitalertragsteuer gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 der Mutter-Tochter-Richtlinie (MTR) sind nach dem Unionsrecht zu verzinsen, wenn dem Anteilseigner vom Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Erstattung der Kapitalertragsteuer unter Bezugnahme auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 ohne Anhaltspunkte, die auf eine missbräuchliche Gestaltung im Einzelfall hindeuten, vorenthalten wird.
  3. Der Zinslauf beginnt in Fällen, in denen ohne ein vorheriges Freistellungsbescheinigungsverfahren die Erstattung der Kapitalertragsteuer beantragt wird, drei Monate nach der Einreichung eines formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags. Er endet mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags.
  4. Der Zinslauf beginnt in Fällen, in denen eine zunächst erteilte Freistellungsbescheinigung unter Bezugnahme auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 vom BZSt widerrufen wird, ohne dass Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Gestaltung vorliegen, mit dem Tag des Einbehalts der Kapitalertragsteuer und endet mit dem Tag der Auszahlung des Erstattungsbetrags.
  5. Die Zinsen sind für den relevanten Zinslauf nach dem Zinssatz gemäß § 238 der Abgabenordnung ohne Begrenzung auf volle Zinsmonate und unter Berücksichtigung der Regelung in § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs taggenau zu ermitteln.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Bundeszentralamt für Steuern unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Finanzgerichts Köln vom 17.11.2021 – 2 K 1544/20 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22.10.2018 verpflichtet, Zinsen wie folgt festzusetzen:

Einbehalt Antragseingang Bearbeitungsfrist bis erster Tag des Zinslaufs Zinsende Zinstage Zinsen
… € 12.05.2009 12.08.2009 13.08.2009 13.08.2018 3.287 … €
… € 03.02.2011 03.05.2011 04.05.2011 13.08.2018 2.658 … €
… € 12.05.2009 12.08.2009 13.08.2009 01.10.2018 3.336 … €

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Revision des Bundeszentralamts für Steuern wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens trägt das Bundeszentralamt für Steuern zu 86 % und die Klägerin zu 14 %.

Gründe

I.

1

Streitig ist, ob und in welcher Höhe Ansprüche auf Erstattung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag zu verzinsen sind.

2

Die Klägerin, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine in Österreich ansässige Kapitalgesellschaft mit Sitz in A. Sie war für die im Streitfall relevanten Ausschüttungsvorgänge zu … % an der B-AG, einer inländischen Aktiengesellschaft, beteiligt. Gesellschafterin der Klägerin war eine Stiftung mit Sitz in C (im Folgenden: Stiftung). Bei dieser handelte es sich um ein gemeinnütziges und von der Körperschaftsteuer nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes befreites Körperschaftsteuersubjekt.

3

Am 16./17.04.2009 hatte die Klägerin beim Beklagten, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Bundeszentralamt für Steuern –BZSt–) einen Antrag auf Teilfreistellung von der deutschen Abzugsteuer (Freistellungsbescheinigung) unter Berufung auf die Steuerfreiheit der Bezüge von der B-AG gemäß § 43b des für den Streitzeitraum jeweils geltenden Einkommensteuergesetzes (EStG) gestellt.

4

Die Erteilung der Freistellungsbescheinigung wurde vom BZSt am 12.11.2009 mit Hinweis auf die Regelung in § 50d Abs. 3 EStG (i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2007 vom 13.12.2006, BGBl I 2006, 2878, BStBl I 2007, 28, im Folgenden: § 50d Abs. 3 EStG 2007) abgelehnt.

5

Die Klägerin erhob dagegen am 10.12.2009 Einspruch. Sie verwies zum fehlenden Missbrauch ihrer Einschaltung in die Beteiligungskette darauf, dass die Kapitalertragsteuer im Fall eines Direktbezugs der Ausschüttungen durch die Stiftung wegen einer vollständigen Abstandnahme vom Steuerabzug gemäß § 44a EStG nicht zu erheben wäre. Die Voraussetzungen von § 50d Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 EStG 2007 seien nicht erfüllt.

6

Der Klägerin wurde danach die Freistellungsbescheinigung vom BZSt am 04.02.2010 für den Zeitraum vom 17.04.2009 bis zum 31.03.2012 unter dem Vorbehalt des Widerrufs und unter Auflagen erteilt.

7

Am 02.03.2011 hob das BZSt die Freistellungsbescheinigung gemäß § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) wieder auf. Zur Begründung nahm es auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 Bezug. Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch. Zum weiteren Verlauf dieses Einspruchsverfahrens hat das Finanzgericht (FG) keine Feststellungen getroffen. Das BZSt hat hierzu in der mündlichen Verhandlung erläutert, der Einspruch sei nicht abschließend beschieden worden.

8

Bei den einzelnen Ausschüttungen der B-AG an die Klägerin hat die B-AG in folgender Höhe Kapitalertragsteuer sowie Solidaritätszuschlag einbehalten und die Klägerin beim BZSt die folgenden Erstattungsanträge gestellt:

Datum des Einbehalts der Kapitalertragsteuer Betrag aus Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag Ausschüttung an die Klägerin Erstattungsantrag Registernummer des BZSt
21.03.2007 … € … € 12.05.2009  
12.03.2008 … € … € 12.05.2009  
17.03.2009 … € … € 03.02.2011  
16.03.2011 … € … € 10.07.2012  
9

Das BZSt lehnte die Erstattungsanträge jeweils unter Hinweis auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 ab. Die anschließend erhobenen Einsprüche ruhten im Hinblick auf die Musterverfahren C-504/16 und C-613/16 sowie C-440/17 beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).

10

Nach Ergehen der EuGH-Entscheidungen Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319; GS vom 14.06.2018 – C-440/17, EU:C:2018:437, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR– 2019, 615 und des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen –BMF– vom 04.04.2018 (BStBl I 2018, 589) erstattete das BZSt der Klägerin die einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuerbeträge.

Erstattungsantrag Betrag aus Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag Registernummer des BZSt Erteilung des Freistellungsbescheids Auszahlungsdatum
12.05.2009 … €   28.09.2018 01.10.2018
12.05.2009 … €   12.07.2018 13.08.2018
03.02.2011 … €   12.07.2018 13.08.2018
10.07.2012 … €   12.07.2018 13.08.2018
11

Am 14.08.2018 (für die Auszahlungen vom 13.08.2018) und 05.10.2018 (für die Auszahlung vom 01.10.2018) beantragte die Klägerin die Festsetzung von Zinsen für den Zeitraum vom jeweiligen Tag des Steuereinbehalts bis zur Auszahlung des jeweiligen Erstattungsbetrags.

12

Das BZSt lehnte die Anträge mit Bescheid vom 22.10.2018 ab.

13

Während des anschließenden Einspruchsverfahrens vertrat das BZSt die Auffassung, dass Zinsen für die erstatteten Kapitalertragsteuerbeträge weder nach den nationalen Regelungen der §§ 233 ff. AO noch auf der Grundlage eines unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs festzusetzen seien. Nach einer Stellungnahme der Klägerin vom 27.01.2020 teilte das BZSt der Klägerin mit Schreiben vom 03.03.2020 mit, dass die Frage der Verzinsung von Steuerabzugsbeträgen im Kontext der Rechtsprechung des EuGH zu § 50d Abs. 3 EStG 2007 Gegenstand von Erörterungen der Finanzverwaltung auf der Bund-Länder-Ebene sei. Nach Bekanntwerden eines Ergebnisses werde man unaufgefordert Stellung nehmen. Mit Schreiben vom 05.05.2020 erkundigte sich die Klägerin zum Sachstand. Das BZSt verwies in seiner Antwort vom 17.06.2020 nochmals auf den fortbestehenden Abstimmungsbedarf auf der Bund-Länder-Ebene.

14

Die Klägerin erhob daraufhin beim FG am 06.07.2020 eine Untätigkeitsklage, mit der sie unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids die Verpflichtung des BZSt zur Festsetzung von Erstattungszinsen in Höhe von insgesamt 652.934,50 € begehrte.

15

Eine Einspruchsentscheidung des BZSt zu den Verzinsungsanträgen erging anschließend bis zum Tag der mündlichen Verhandlung und Entscheidung des FG über die Verzinsungsanträge am 17.11.2021 nicht.

16

Das FG hat der Klage teilweise stattgegeben und das BZSt verpflichtet, Zinsen in Höhe von 505.199 € festzusetzen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2022, 349 wiedergegeben.

17

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts, soweit das FG der Klage nicht stattgegeben hat. Sämtliche Erstattungsbeträge seien ab dem Tag des Einbehalts zu verzinsen.

18

Die Klägerin beantragt, unter teilweiser Aufhebung des Urteils des FG Köln vom 17.11.2021 – 2 K 1544/20 und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22.10.2018 das BZSt zu verpflichten, die Erstattungsbeträge wie folgt zu verzinsen:

Festsetzung Erstattung Steuereinbehalt Klageantrag beim FG Entscheidung des FG Beantragte höhere Verzinsung laut Revision
12.07.2018 … € … € 268.370,00 € 85.650,00 €
12.07.2018 … € … € 91.757,50 € 29.146,50 €
28.09.2018 … € … € 75.288,00 € 32.938,50 €
19

Zur Revision des BZSt beantragt die Klägerin, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

20

Das BZSt beantragt, die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen und das Urteil des FG Köln vom 17.11.2021 – 2 K 1544/20 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

21

Das BZSt rügt ebenfalls die Verletzung materiellen Bundesrechts. Weder nach dem nationalen Recht noch nach dem Unionsrecht stehe der Klägerin eine Verzinsung der Erstattungsbeträge zu. Nach dem nationalen Recht hätte die Klägerin nur Prozesszinsen gemäß § 236 AO auf der Grundlage einer gerichtlichen Durchsetzung ihres Anspruchs beanspruchen können. Es wäre ihr auch möglich und zumutbar gewesen, die Erstattungen im Wege einer Untätigkeitsklage durchzusetzen. Die Abhilfe im Einspruchsverfahren, nachdem dieses wegen anhängiger Musterverfahren beim EuGH geruht habe, genüge nicht.

22

Seien dennoch nach dem unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch Zinsen festzusetzen, sei dem BZSt nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22.10.2019 –  VII R 24/18 (BFHE 267, 90) ein angemessener Bearbeitungszeitraum einzuräumen, in dem die Verzinsung noch nicht beginne. Im Rahmen der vorzunehmenden Einzelfallprüfung sei bei Erstattungsanträgen neben der Prüfung formaler Angaben wie des Steuereinbehalts und der Steuerabführung einschließlich der zugehörigen Bescheinigungen und Belege auch ein Missbrauch der Einschaltung der Klägerin in die Beteiligungskette zu prüfen. Es spreche der typische zeitliche Ablauf des Erstattungsverfahrens dafür, dem BZSt einen zinsfreien Bearbeitungszeitraum von 12 Monaten einzuräumen, der nach Ablauf desjenigen Monats beginne, in dem der Erstattungsantrag und alle für die Entscheidung erforderlichen Nachweise vorlägen. Dies entspreche auch der Verzinsungsregel der Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2003, Nr. L 157, 49) –Zins- und Lizenzrichtlinie– und des nationalen Umsetzungsgesetzes (§ 50c Abs. 4 Satz 3 EStG i.V.m. Art. 1 Abs. 16 Zins- und Lizenzrichtlinie). Gegen die Annahme einer angemessenen Bearbeitungsdauer von drei Monaten nach Maßgabe der gesetzlichen Entscheidungsfrist im Freistellungsbescheinigungsverfahren führte das BZSt an, dass sich das dortige Prüfprogramm von dem des Erstattungsverfahrens und die Anzahl der zu bearbeitenden Verfahren unterschieden. Es sei im Freistellungsbescheinigungsverfahren nicht zu prüfen, ob die Kapitalertragsteuer einbehalten und abgeführt worden sei. Der zinsfreie Bearbeitungszeitraum von 12 Monaten sei gleichermaßen für einen Erstattungsantrag anzuwenden, der nach dem Entzug einer zuvor erteilten Freistellungsbescheinigung gestellt werde.

II.

23

Die Revision der Klägerin ist begründet.

24

Das FG hat die Untätigkeitsklage zu Recht als zulässig angesehen (s. II.1.). Die in der Revision der Klägerin noch streitigen Zinsbeträge sind auf der Grundlage des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs teilweise festzusetzen (s. II.2. und II.3.). Der Verzinsungszeitraum für diese Zinsansprüche, die reine Erstattungsfälle betreffen, beginnt drei Monate nach Einreichung des jeweiligen formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags beim BZSt und endet mit der Auszahlung des Erstattungsbetrags (s. II.4.). Das FG-Urteil ist aufzuheben, soweit es die in der Revision der Klägerin streitigen Zinsansprüche betrifft. Die Sache ist insoweit auch spruchreif. Für den jeweiligen Verzinsungszeitraum sind die Zinsen taggenau unter Anwendung eines monatlichen Zinssatzes von 0,5 % zu berechnen (s. II.5.). Der Klage ist nach Maßgabe der Gründe in weiterem Umfang als bisher stattzugeben; im Übrigen wird sie abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

25

1. Das FG hat die von der Klägerin erhobene Untätigkeitsverpflichtungsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO zu Recht als zulässig angesehen.

26

a) Zu den vom BFH als Revisionsgericht von Amts wegen zu überprüfenden Sachentscheidungsvoraussetzungen gehört auch die Frage, ob über eine Verpflichtungsklage entschieden werden darf. Dies ist der Fall, wenn nach § 44 Abs. 1 FGO das Vorverfahren über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ganz oder zum Teil erfolglos geblieben ist, anderenfalls, wenn mangels eines abgeschlossenen Vorverfahrens wie im Streitfall die Voraussetzungen der §§ 45, 46 FGO eingreifen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 23.02.2021 –  II R 22/19, BFHE 273, 190, BStBl II 2021, 636, Rz 33). Ist über einen außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 44 FGO ohne vorherigen Abschluss des Vorverfahrens zulässig. Die Klage kann nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden, es sei denn, dass wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist (§ 46 Abs. 1 Satz 1 und 2 FGO).

27

b) Das FG hat die Klage nach diesen Vorgaben zutreffend als zulässig angesehen. Bei der Klage handelt es sich um eine sogenannte „einfache“ Untätigkeitsverpflichtungsklage (zur Abgrenzung von der –unzulässigen– „doppelten“ Untätigkeitsverpflichtungsklage BFH-Urteile vom 19.05.2004 –  III R 18/02, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980, unter II.3. [Rz 39]; vom 03.08.2005 –  I R 74/02, BFH/NV 2006, 19, unter II.2.b [Rz 17]). Im Zeitpunkt der Entscheidung des FG am 17.11.2021 konnte sich das BZSt nicht mehr auf einen sachlichen Grund für die Nichtentscheidung über die Einsprüche stützen. Die Klage ist jedenfalls in die Zulässigkeit hineingewachsen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 19.04.2007 –  V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315, unter II.B.1.c [Rz 36]; vom 11.02.2021 –  VI R 37/18, BFH/NV 2021, 1085, Rz 55). Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Der Senat sieht von weiteren Ausführungen ab.

28

2. Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Klägerin eine Verzinsung der Erstattungsbeträge auf Grundlage der nationalen Verzinsungsregelungen in § 233 ff. AO nicht zusteht.

29

a) Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) werden nur verzinst, soweit dies durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Union vorgeschrieben ist (§ 233 Satz 1 AO). Nicht zu verzinsen ist gemäß § 233a Abs. 1 Satz 2 AO die Nachzahlung und Erstattung (eines Unterschiedsbetrags im Sinne des § 233a Abs. 3 AO) von Steuerabzugsbeträgen wie der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags (vgl. BFH-Urteil vom 18.09.2007 –  I R 15/05, BFHE 219, 1, BStBl II 2008, 332, unter III.1.; nachgehend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 03.09.2009 – 1 BvR 1098/08, HFR 2010, 66; BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 71, m.w.N.). Kapitalertragsteuerbeträge sind allenfalls gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 AO durch die Festsetzung von Prozesszinsen zu verzinsen, wenn die gemäß § 168 AO vom Steuerentrichtungspflichtigen angemeldeten Steuerbeträge aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung oder eines gleichgestellten Vorgangs herabgesetzt und erstattet werden (s. z.B. Klein/Werth, AO, 18. Aufl., § 236 Rz 11; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 236 AO Rz 12, 13; wohl auch Loose in Tipke/Kruse, § 236 AO Rz 3 mit Verweis auf § 3 Abs. 1 AO, dazu Drüen in Tipke/Kruse § 3 AO Rz 16a). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Weder wurden die Kapitalertragsteueranmeldungen gerichtlich angefochten und herabgesetzt noch ergingen die Freistellungsbescheide im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens. Die Herabsetzung und Erstattung einer Steuer auf der Grundlage eines (zwischenzeitlich ruhenden) Einspruchsverfahrens genügt den gesetzlichen Anforderungen des § 236 AO nicht (BFH-Urteil vom 02.03.1988 –  I R 72/84, BFH/NV 1988, 619, unter 4. [Rz 15]; BFH-Beschlüsse vom 03.04.2007 –  IX B 169/06, BFH/NV 2007, 1267; vom 23.10.2019 –  VII B 40/19, BFH/NV 2020, 81, Rz 26).

30

b) Eine Anwendung der nationalen Verzinsungsregelungen gemäß § 233 Satz 1 Alternative 2 i.V.m. § 233a ff. AO kommt ebenfalls nicht in Betracht. Die Verzinsung der Erstattungsansprüche der Klägerin ist weder gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG noch in der für die jeweiligen Ausschüttungen und Erstattungsanträge in den Jahren 2007 bis 2009 geltenden Fassungen der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23.07.1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1990 Nr. L 225, 6, Nr. L 266, 20, 1997 Nr. L 16, 98), zuletzt geändert durch die Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30.11.2011 (ABlEU 2011, Nr. L 345, 8), –Mutter-Tochter-Richtlinie– (im Folgenden: MTR) im Sinne des § 233 Satz 1 Alternative 2 AO angeordnet worden.

31

3. Das FG hat zutreffend erkannt, dass die streitigen Erstattungsbeträge zur Kapitalertragsteuer und zum Solidaritätszuschlag nach dem aus dem Unionsrecht abzuleitenden Verzinsungsanspruch zu verzinsen sind.

32

a) Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts eine Steuer erhoben hat, einen Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Daraus folgt der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten aus dem Unionsrecht verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten. In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen –insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen– festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, das heißt, sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (z.B. EuGH-Urteile Littlewoods Retail u.a. vom 19.07.2012 – C-591/10, EU:C:2012:478, HFR 2012, 1018, Rz 25, m.w.N.; Irimie vom 18.04.2013 – C-565/11, EU:C:2013:250, HFR 2013, 659, Rz 21; Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796, Rz 64; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 32 ff.; vgl. auch BFH-Urteile vom 22.09.2015 –  VII R 32/14, BFHE 251, 291, BStBl II 2016, 323; vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803, m.w.N.; vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 67; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 –  VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164).

33

Ein unionsrechtlicher Verstoß im Rahmen der Steuererhebung, der einen Erstattungs- und einen Zinsanspruch begründen kann, kann sich auf jede Regel des Unionsrechts beziehen und sowohl von den Unionsgerichten als auch von einem nationalen Gericht festgestellt werden. Zur konkreten Umsetzung der Verzinsung hat der EuGH außerdem darauf hingewiesen, dass die Zinszahlungsmodalitäten nicht dazu führen dürfen, dass dem Betreffenden eine angemessene Entschädigung für die erlittenen Einbußen vorenthalten wird. Dies setzt unter anderem voraus, dass die ihm gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des Falles zwischen dem Tag, an dem der Betreffende den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat oder hätte erhalten sollen, und dem Tag liegt, an dem dieser ihm erstattet oder an ihn entrichtet wurde (zum Vorstehenden s.a. EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460; BFH-Urteile vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803; vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 68; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 –  VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164).

34

b) Soweit der I. Senat des BFH im Hinblick auf die Regelung in § 233 Abs. 1 Satz 2 AO für das frühere Abzugs- und Erstattungsverfahren in § 50 Abs. 5 i.V.m. § 50a EStG a.F. noch entschieden hatte, dass erstattete Steuerabzugsbeträge auch unter Beachtung des Unionsrechts nicht zu verzinsen seien (BFH-Urteil vom 18.09.2007 –  I R 15/05, BFHE 219, 1, BStBl II 2008, 332, unter III.; nachgehend BVerfG-Beschluss vom 03.09.2009 – 1 BvR 1098/08, HFR 2010, 66), hat er hieran aufgrund der Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch nicht festgehalten, um einen Verstoß der nationalen Regelungslage gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz zu vermeiden (BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 71, 72). Dem schließt sich der erkennende Senat an.

35

c) Die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs hat das FG zu Recht im Ergebnis als erfüllt angesehen.

36

aa) Anders als das BZSt meint, können die Voraussetzungen für den unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch nicht nur erfüllt sein, wenn der Unionsrechtsverstoß im Wege einer Klage verfolgt und die Erstattung der unionsrechtswidrig erhobenen Steuern gerichtlich durchgesetzt wird. Auch die Abwehr des Unionsrechtsverstoßes im Rahmen eines (zwischenzeitlich ruhenden) Einspruchsverfahrens genügt.

37

Die Klägerin musste sich nicht auf die Rechtsverfolgung der Erstattungsbegehren durch die Festsetzung von Freistellungsbescheiden im Wege einer Untätigkeitsverpflichtungsklage verweisen lassen, um die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs zu erfüllen. Dies ergibt sich für den Senat aus der gefestigten EuGH-Rechtsprechung (Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796, Rz 78 bis 81, 84; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 36).

38

Auch der Umstand, dass das Einspruchsverfahren zu den reinen Erstattungsanträgen der Klägerin im Hinblick auf Musterverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 AO (hier: die Vorlage des FG vom 08.07.2016 – 2 K 2995/12, EFG 2016, 1801 an den EuGH zu § 50d Abs. 3 EStG 2007) zwischenzeitlich zum Ruhen gebracht worden war und das Einspruchsverfahren mit einer Abhilfeentscheidung zugunsten der Klägerin endete, ist unerheblich. Entscheidend und ausreichend für eine Verzinsung der Erstattungsbeträge ist, dass deren Vorenthaltung auf einer unionsrechtswidrigen Auslegung oder Anwendung der maßgeblichen nationalen Regelungen (dazu unten dd) beruhte. Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz stünde einer Begrenzung des Zinsanspruchs nur auf rechtshängig gewordene Erstattungsansprüche im Sinne des § 236 AO entgegen (BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 73; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 –  VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164, Rz 9, 13 sowie bereits unter II.3.b).

39

Dass der unionsrechtliche Verzinsungsanspruch für im Rahmen eines Einspruchsverfahrens erstattete Kapitalertragsteuerbeträge insoweit einen weitergehenden Zinsanspruch als das nationale Recht gewährt (s. II.2.a), ist ebenfalls unerheblich.

40

bb) Wenn eine Steuer von einer nationalen Behörde „unter Verstoß gegen das Unionsrecht“ rechtsgrundlos erhoben wird, begründet und rechtfertigt dies die Verzinsung der zu erstattenden Steuerbeträge (vgl. EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796, Rz 60; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 33). Ein Verstoß gegen das Unionsrecht im Rahmen der Steuererhebung kann jede Vorschrift des Unionsrechts zum Gegenstand haben, sei es eine Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts (EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796, Rz 61; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 34; ebenso BFH-Urteile vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 70, m.w.N.; vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803, Rz 12; BFH-Beschluss vom 07.08.2024 –  VII B 168/22, BFH/NV 2025, 164, Rz 9, 13). Zur Art des Verstoßes hat der EuGH ferner entschieden, dass die unionsrechtlichen Ansprüche auf Erstattung und auf Zahlung von Zinsen Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes sind, dessen Anwendung nicht auf bestimmte Unionsrechtsverstöße beschränkt und nicht bei bestimmten Unionsrechtsverstößen ausgeschlossen ist (EuGH-Urteile Gräfendorfer Geflügel und Tiefkühlfeinkost u.a. vom 28.04.2022 – C-415/20, C-419/20 und C-427/20, EU:C:2022:306, BFH/NV 2022, 796, Rz 62; Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 35).

41

cc) Zwar kommt die Verzinsung erhobener Steuerbeträge nach diesen Grundsätzen auch in Betracht, wenn sich aus einer Entscheidung des EuGH oder einer Entscheidung eines nationalen Gerichts ergibt, dass eine Quellensteuer von einer nationalen Behörde auf der Grundlage einer fehlerhaften Auslegung oder einer fehlerhaften Anwendung des Unionsrechts erhoben wird (EuGH-Urteil Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 37). Im Rahmen des zweigeteilten Verfahrens bestehend aus dem Kapitalertragsteuereinbehalt und einer anschließenden antragsgebundenen Erstattung der Steuerabzugsbeträge auf Grundlage der Regelungen in § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR liegt jedoch grundsätzlich noch keine solche fehlerhafte Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts, die einen Verzinsungsanspruch begründen kann.

42

Die Vornahme des Kapitalertragsteuerabzugs im Zeitpunkt der Ausschüttung ist –ungeachtet der objektiv gegebenen Steuerfreiheit nach Art. 5 MTR und § 43b EStG– nach den Vorgaben des Unionsrechts grundsätzlich nicht zu beanstanden. Die Kapitalertragsteueranmeldungen des inländischen Entrichtungsschuldners (hier: der B-AG) bilden –unionsrechtskonform– den Rechtsgrund für das Vereinnahmen und das „Behaltendürfen“ der Kapitalertragsteuer durch den deutschen Fiskus. Keinen Unionsrechtsverstoß begründet es ferner, dass der Anteilseigner als Empfänger der Bezüge die Erstattung der einbehaltenen Steuer beantragen muss. Auch die ihm bis zur Erteilung des notwendigen Freistellungsbescheids entstehenden Liquiditätsnachteile können grundsätzlich nicht kausal auf einen Unionsrechtsverstoß zurückgeführt werden (vgl. zum Ganzen BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 84, 85 mit Verweis auf EuGH-Urteil FKP Scorpio Konzertproduktionen vom 03.10.2006 – C-290/04, EU:C:2006:630, BStBl II 2007, 352; BFH-Urteile vom 24.04.2007 –  I R 39/04, BFHE 218, 89, BStBl II 2008, 95; vom 11.01.2012 –  I R 25/10, BFHE 236, 318; vom 25.10.2023 –  I R 35/21, BFHE 283, 1, BStBl II 2024, 343 und vom 25.04.2018 –  I R 59/15, BFHE 261, 406, BStBl II 2018, 624). Dem schließt sich der erkennende Senat an.

43

dd) Es ist aber von einer unionsrechtswidrigen Erhebung der Kapitalertragsteuer auszugehen, wenn im Erstattungsverfahren ein mit dem Unionsrecht nicht mehr vereinbarer Vollzug der Entlastungsregelungen in § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR stattfindet.

44

aaa) Ein unionsrechtswidriger Vollzug der Entlastungsregelungen im Erstattungsverfahren kann –wie bei der Erhebung der Steuerbeträge– auf einer fehlerhaften Auslegung oder Anwendung des Unionsrechts beruhen, wobei der Verstoß jede Vorschrift des Unionsrechts, sei es eine Bestimmung des Primär- oder Sekundärrechts oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, zum Gegenstand haben kann (s. unter II.3.c bb; vgl. EuGH-Urteil Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 37).

45

bbb) Der unionsrechtswidrige Vollzug der Entlastungsregelungen liegt für die hier betrachteten Erstattungsanträge darin, dass das BZSt der Klägerin die Erstattung unter Berufung auf die Regelung in § 50d Abs. 3 EStG 2007 vorenthalten hat. Dies führte wie vom FG zutreffend erkannt zu einer fehlerhaften Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch das BZSt (s. anders unter III.1. und III.2. für den dort streitigen unionsrechtswidrigen Widerruf der zuvor erteilten Freistellungsbescheinigung).

46

(1) Gemäß § 50d Abs. 3 Satz 1 EStG 2007 hat eine ausländische Gesellschaft keinen Anspruch auf völlige oder teilweise Entlastung (von der Kapitalertragsteuer), soweit Personen an ihr beteiligt sind, denen die Erstattung oder Freistellung nicht zustände, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und (Nr. 1) für die Einschaltung der ausländischen Gesellschaft wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe fehlen oder (Nr. 2) die ausländische Gesellschaft nicht mehr als 10 Prozent ihrer gesamten Bruttoerträge des betreffenden Wirtschaftsjahres aus eigener Wirtschaftstätigkeit erzielt oder (Nr. 3) die ausländische Gesellschaft nicht mit einem für ihren Geschäftszweck angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr teilnimmt.

47

(2) § 50d Abs. 3 EStG 2007 hat der EuGH mit Urteil Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319 als nicht mit Art. 1 Abs. 2 MTR und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union –AEUV–) vereinbar angesehen. Er hat entschieden, dass eine nationale Regelung nur dann die Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen bezwecke, wenn ihr spezifisches Ziel in der Verhinderung von Verhaltensweisen liege, die darin bestünden, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Konstruktionen zu dem Zweck zu errichten, ungerechtfertigt einen Steuervorteil zu nutzen. Insofern hat der EuGH insbesondere moniert, dass § 50d Abs. 3 EStG 2007 als Steuervorschrift wirke, die eine allgemeine Missbrauchs- oder Hinterziehungsvermutung zu Lasten der beschränkt steuerpflichtigen Dividendenbezieher begründe und diese vom Steuervorteil nach Art. 5 MTR ausgenommen würden, ohne dass dem BZSt ein Anfangsbeweis für das Fehlen wirtschaftlicher Gründe des Beteiligungsbezugs und eine Darlegung von Indizien für eine Steuerhinterziehung oder eine missbräuchliche Gestaltung abverlangt werde (EuGH-Urteil Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319, Rz 60, 61, 62).

48

(3) Auf dieser Grundlage hat das BZSt der Klägerin in den hier betrachteten reinen Erstattungsfällen (anders zu dem unter III.1. und III.2. behandelten Erstattungsantrag) die Erstattungen jeweils in unionsrechtswidriger Weise vorenthalten. Es hat sich zur Ablehnung der Erstattung jeweils auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 und die der Regelung innewohnende allgemeine Missbrauchsregelung gestützt, ohne selbst Umstände des Streitfalls zu benennen, aus denen im Sinne eines Anfangsbeweises auf fehlende wirtschaftliche Gründe für die Einschaltung der Klägerin in die Beteiligungsstruktur oder auf eine Steuerhinterziehung geschlossen werden könnte. In der Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 als allgemeiner Missbrauchsregelung und der verfahrensrechtlichen Umkehrung der Darlegungs- und Feststellungslast für eine missbräuchliche Gestaltung (s. Nr. 14 des BMF-Schreibens vom 03.04.2007, BStBl I 2007, 446) liegt eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung der Vorgaben aus Art. 1 Abs. 2 MTR und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) durch das BZSt (s.a. BMF-Schreiben vom 04.04.2018, BStBl I 2018, 589 zur generellen Nichtanwendung von § 50d Abs. 3 EStG 2007 in Erstattungsfällen gemäß § 43b EStG nach Ergehen des EuGH-Urteils Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319).

49

(4) Der Senat hat angesichts der unmissverständlichen Aussagen des EuGH-Urteils Deister Holding und Juhler Holding vom 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16, EU:C:2017:1009, BFH/NV 2018, 319 auch keine Zweifel, dass hierin jeweils eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch das BZSt zu sehen ist. Dies ist auch in der mündlichen Verhandlung zwischen den Beteiligten nicht mehr streitig gewesen.

50

4. Das FG hat der Ermittlung der Zinsansprüche der Klägerin jedoch zu kurze Verzinsungszeiträume zugrunde gelegt. Aus diesem Grund ist das FG-Urteil für die mit der Revision der Klägerin weiterverfolgten Zinsansprüche aufzuheben.

51

a) Anders als die Klägerin meint, wird der maßgebliche Verzinsungszeitraum durch die grundsätzlich unionsrechtskonforme Steuererhebung im zweigeteilten Verfahren bestimmt. Er umfasst in Fällen, in denen dem Anteilseigner zunächst keine Freistellungsbescheinigung vorlag oder in unionsrechtswidriger Weise widerrufen wurde (s. dazu unter III.1. und I.2.), nicht den Zeitraum zwischen dem Steuereinbehalt und der Einreichung des Erstattungsantrags beim BZSt. Die Klägerin kann hinsichtlich der Verzinsung fiktiv nicht so gestellt werden, als sei ihr eine Abstandnahme vom Steuerabzug zu gewähren gewesen, wenn ihr tatsächliches Vorgehen und Rechtsschutzbegehren nur auf die nachträgliche Entlastung von der Kapitalertragsteuer im Wege der Erstattung gerichtet war (BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 87). Darüber hinaus liegt im Rahmen des Erstattungsverfahrens kein unionsrechtswidriger Liquiditätsentzug vor, solange sich die Bearbeitung und Prüfung der Erstattung durch das BZSt als ordnungsgemäßer Vollzug der steuerrechtlichen Entlastungsregelungen –hier gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR– darstellt (s. unter II.4.c aa bis cc; BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 86, 87, m.w.N.). Hiervon ist auch das FG ausgegangen.

52

b) Nach Eingang des vollständigen Erstattungsantrags ist der Finanzverwaltung daher ein Bearbeitungszeitraum für die Entscheidung über den Antrag bis zur Auszahlung des Erstattungsbetrags zuzubilligen, während derer der Liquiditätsnachteil des Anteilseigners noch nicht auf einer unionsrechtswidrigen Vorenthaltung des Erstattungsanspruchs beruht (s. zur Erstattung der Mehrwertsteuer ebenso EuGH-Urteile Enel Maritsa Iztok 3 vom 12.05.2011 – C-107/10, EU:C:2011:298; Rafinăria Steaua Română vom 24.10.2013 – C-431/12, EU:C:2013:686; BFH-Urteil vom 22.10.2019 –  VII R 24/18, BFHE 267, 90, Rz 26, 30). Denn auch bei einer zutreffenden Anwendung des Unionsrechts im Erstattungsverfahren, die keine Verzinsung auslösen würde, wäre nicht am Tag nach dem Eingang des Erstattungsantrags der begehrte Freistellungsbescheid zu erteilen und die Kapitalertragsteuer auszuzahlen.

53

c) Für die Dauer der Bearbeitungszeit kommt es maßgeblich darauf an, in welchem Zeitraum bei Hinwegdenken des Unionsrechtsverstoßes eine Entscheidung über die Erstattungsanträge und die Auszahlung der Erstattungsbeträge hätte erwartet werden können. Die vom FG herangezogene Bearbeitungsfrist von vier Monaten und 10 Tagen ist für den hier betroffenen Sachbereich der Erstattungsanträge gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und Art. 5 MTR jedoch nicht geeignet. Der Senat hält einen typisierenden Bearbeitungszeitraum von drei Monaten nach Eingang eines formal ordnungsgemäßen Erstattungsantrags beim BZSt für ausreichend und sachgerecht.

54

aa) Der vom FG herangezogene Bearbeitungszeitraum des BZSt von vier Monaten und 10 Tagen ab der Antragstellung ist hingegen nicht geeignet.

55

Der VII. Senat des BFH hat diese Bearbeitungsfrist im Urteil vom 22.10.2019 –  VII R 24/18 (BFHE 267, 90) aus Regelungen der Richtlinie 2008/9/EG (RL 2008/9/EG) des Rates vom 12.02.2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige abgeleitet. Nach Art. 15 Abs. 1 Satz 1 RL 2008/9/EG müsse der Erstattungsantrag dem zuständigen Mitgliedstaat spätestens am 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen. Sodann stünden der Behörde nach der Richtlinie insgesamt vier Monate und 10 Arbeitstage zur Verfügung, um den Erstattungsantrag zu bearbeiten und den Erstattungsbetrag auszuzahlen. Diese Frist solle der für alle Antragsteller gleichen Abgabefrist für die Erstattungsanträge und dem erhöhten Antragsaufkommen zu bestimmten Zeiten Rechnung tragen (BFH-Urteil vom 22.10.2019 –  VII R 24/18, BFHE 267, 90, Rz 29 zur Übertragung auch auf Verfahren zur Entlastung von der Energiesteuer). Im Bereich der Kapitalertragsteuer beziehungsweise Abzugsteuer existiert jedoch wegen fehlender einheitlicher Abgabefristen für Erstattungsanträge zu einem bestimmten Stichtag eine vergleichbare Situation nicht (ebenso Beinert, Internationale Steuer-Rundschau –ISR– 2024, 225 (230); Erdem in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Vor § 50d Abs. 3 EStG Rz 21.2; Paar/Pignot, Internationales Steuerrecht –IStR– 2022, 500 (504)).

56

bb) Die Dauer einer angemessenen behördlichen Bearbeitungsfrist für Erstattungsanträge ist ferner weder in § 43b EStG noch in § 50d Abs. 1 Satz 2 ff. EStG noch in der Mutter-Tochter-Richtlinie geregelt. Allerdings enthält § 50d Abs. 2 Satz 6 und 7 EStG für die Erteilung von Freistellungsbescheinigungen im hier relevanten Streitzeitraum die Vorgabe für das BZSt, über einen solchen Antrag innerhalb von drei Monaten entscheiden zu müssen. Diese Entscheidungsfrist beginnt mit der Vorlage aller für die Entscheidung erforderlichen Nachweise beim BZSt.

57

cc) Der Senat sieht in der dreimonatigen Entscheidungsfrist einen angemessenen Bearbeitungszeitraum des BZSt für die Entscheidung über reine Erstattungsanträge wie im Streitfall. Bei den erforderlichen Nachweisen, die diesen typisierenden Zeitraum in Gang setzen, handelt es sich um die vom Antragsteller beizubringenden und für die Bearbeitung des Antrags notwendigen formalen Nachweise (vgl. § 50d Abs. 1 Satz 3 EStG: amtlich vorgeschriebener Vordruck und Amtliches Einkommensteuerhandbuch 2008 bis 2010 zu § 43b EStG mit Hinweis auf das BMF-Schreiben vom 01.03.1994, BStBl I 1994, 203, Tz. 1.4.3, 2.4: Ansässigkeitsbescheinigung der ausländischen Steuerbehörde, Belege zu Art, Höhe und Zufluss sowie Einbehalt der Kapitalertragsteuer, zum Beispiel die Steuerbescheinigung).

58

Soweit das BZSt in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen hat, dass in einem Erstattungsverfahren –anders als in einem Freistellungsbescheinigungsverfahren– zusätzlich die Abführung der (gegebenenfalls zu Unrecht bescheinigten) einbehaltenen Kapitalertragsteuer zu prüfen sei, sieht der Senat hierin keinen Umstand, der gegen das Heranziehen der Dreimonatsfrist für das Freistellungsbescheinigungsverfahren als angemessenen Bearbeitungszeitraum für die Bemessung des Verzinsungszeitraums spricht. Der Senat orientiert sich insoweit nur typisierend an der gesetzlich vorgesehenen Entscheidungsfrist für das Freistellungsbescheinigungsverfahren, da es sich in beiden Verfahren um ein weitgehend übereinstimmendes materielles Prüfungsprogramm handelt. Auch im Schrifttum (Beinert, ISR 2024, 225 (226 f., 230); Kohlhas, juris – Die Monatszeitschrift 2024, 310 (312 f.); Erdem in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Vor § 50d Abs. 3 EStG Rz 21.2, 21.3; engere Auffassung Paar/Pignot, IStR 2022, 500 (504 f.)) wird es für möglich gehalten, die dreimonatige Entscheidungsfrist des § 50d Abs. 2 Satz 6 EStG (heute § 50c Abs. 2 Satz 6 EStG) als angemessenen typisierenden Bearbeitungszeitraum des BZSt heranzuziehen, wenn dem Anteilseigner die ihm gemäß § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG und nach Art. 5 MTR zustehende Erstattung der Kapitalertragsteuer aufgrund der unionsrechtswidrigen Auslegung und Anwendung von § 50d Abs. 3 EStG 2007 vorenthalten wird.

59

dd) Dem steht auch nicht entgegen, dass der I. Senat des BFH für andere Fallkonstellationen einen Bearbeitungszeitraum des BZSt von sechs Monaten nach dem Antragseingang als sachgerecht erachtet hat (BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 88). Wegen der spezielleren gesetzlichen Regelungslage in § 50d Abs. 1 und Abs. 2 EStG ist es für die hier betroffenen Erstattungsverfahren sachgerecht, an die gesetzliche Entscheidungsfrist für das Freistellungsbescheinigungsverfahren anzuknüpfen. Eine Bearbeitungsfrist von 12 Monaten in Anlehnung an § 50c Abs. 4 Satz 3 EStG, Art. 1 Abs. 16 Zins- und Lizenzrichtlinie hält der Senat aus diesem Grund ebenfalls für nicht sachgerecht, da der europäische Richtliniengeber und der nationale Gesetzgeber diesen Verzinsungsanspruch abweichend von § 233a Abs. 1 Satz 2 AO nur für die Erstattung einbehaltener Kapitalertragsteuer auf Zinsen und Lizenzeinnahmen einführen wollten (s.a. Beinert, ISR 2024, 225 (226 f., 230); Paar/Pignot, IStR 2022, 500 (504 f.); s.a. BTDrucks 19/27632, S. 55).

60

d) Für die Berechnung des Verzinsungszeitraums endete die angemessene Bearbeitungszeit des BZSt somit mit Ablauf von drei Monaten nach Eingang der Erstattungsanträge der Klägerin, die nach dem übereinstimmenden Vorbringen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung formal ordnungsgemäß und vollständig waren. Soweit das BZSt sich wegen § 50d Abs. 3 EStG 2007 an einer positiven Bescheidung der Anträge und Auszahlung der Erstattungsbeträge gehindert gesehen hat, handelt es sich nach Ablauf des dreimonatigen Bearbeitungszeitraums nicht mehr um einen ordnungsgemäßen Vollzug der steuerrechtlichen Entlastungsregelungen in Art. 5 MTR und § 50d Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 43b EStG. Insoweit beruhen die Liquiditätsnachteile der Klägerin auf der unionsrechtswidrigen Vorenthaltung der Erstattungsbeträge. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, ist das FG-Urteil aufzuheben, soweit es von der Klägerin mit der Revision angefochten worden ist.

61

5. Die Sache ist auch spruchreif. Das BZSt wird nach Maßgabe der folgenden Vorgaben zur Festsetzung der Zinsansprüche verpflichtet. Der Klage ist über den bisherigen Umfang hinaus teilweise stattzugeben. Im Übrigen ist sie abzuweisen.

62

a) In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung der Zinsen nach dem unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch –insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen– festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, das heißt, sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Ansprüchen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen. Die Zinszahlungsmodalitäten dürfen nicht dazu führen, dass dem Betreffenden eine angemessene Entschädigung für die erlittenen Einbußen vorenthalten wird; dies setzt unter anderem voraus, dass die ihm gezahlten Zinsen den Gesamtzeitraum abdecken, der je nach Lage des Falles zwischen dem Tag, an dem der Betreffende den fraglichen Geldbetrag entrichtet hat oder hätte erhalten sollen, und dem Tag liegt, an dem dieser ihm erstattet oder an ihn entrichtet wurde. Daraus folgt, dass das Unionsrecht einer rechtlichen Regelung entgegensteht, die dieser Anforderung nicht entspricht, und die wirksame Geltendmachung der durch das Unionsrecht gewährleisteten Ansprüche auf Erstattung und Zahlung von Zinsen nicht ermöglicht (z.B. EuGH-Urteil Dyrektor Izby Administracji Skarbowej we Wroclawiu vom 08.06.2023 – C-322/22, EU:C:2023:460, Rz 40; BFH-Urteile vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 67, 68, 74, m.w.N.; vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803).

63

Bei der Berechnung des Zinszahlungszeitraums im Fall von Erstattungsanträgen sind –anders als im Rahmen von § 238 Abs. 1 AO und als vom FG berechnet– daher nicht nur volle Zinsmonate zu berücksichtigen (BFH-Urteile vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803; vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 73).

64

b) Der Zinssatz bestimmt sich nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Er steht im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben, weil er auch im Fall der Verzinsung eines Körperschaftsteuererstattungsanspruchs nach nationalem Recht anzuwenden wäre (vgl. BFH-Urteile vom 15.11.2022 –  VII R 29/21 (VII R 17/18), BFHE 279, 1, BStBl II 2023, 803, Rz 37, 38; vom 13.03.2024 –  I R 1/20, Rz 75, 76).

65

c) Anknüpfend daran sind die Zinsen für den maßgeblichen Verzinsungszeitraum taggenau zu berechnen. Der Zinslauf beginnt mit dem Tag, der auf den Ablauf des dreimonatigen Bearbeitungszeitraums nach Eingang des Erstattungsantrags folgt. Er endet mit dem Auszahlungstag des Erstattungsbetrags. Für die Zinsberechnung ist gemäß § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Tag, ab dem der Bearbeitungszeitraum zugunsten des BZSt nicht mehr zu berücksichtigen ist und der Liquiditätsnachteil, auf dem der Unionsrechtsverstoß beruht, nicht mitzuzählen, da es sich um ein in diesen Tag fallendes „Ereignis“ handelt (s. zur Zinsberechnung bei Ereignisfristen Grüneberg/Grüneberg, Bürgerliches Gesetzbuch, 84. Aufl., § 246 Rz 9 und Grüneberg/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 84. Aufl., § 187 Rz 1). Nach der Berechnung des Senats stehen der Klägerin auf dieser Grundlage Zinsen in der folgenden Höhe zu:

Einbehalt Antragseingang Bearbeitungsfrist bis Erster Tag des Zinslaufs Zinsende Zinstage Zinsen laut BFH
… € 12.05.2009 12.08.2009 13.08.2009 13.08.2018 3.287 … €
… € 03.02.2011 03.05.2011 04.05.2011 13.08.2018 2.658 … €
… € 12.05.2009 12.08.2009 13.08.2009 01.10.2018 3.336 … €

III.

66

Die Revision des BZSt ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).

67

1. Die Revision ist hinsichtlich der Zinsansprüche, die das FG im Zusammenhang mit den Erstattungsverfahren, denen kein Freistellungsbescheinigungsverfahren vorausgegangen ist, aus den unter II. dargelegten Gründen unbegründet.

68

2. Die Revision des BZSt ist auch unbegründet, soweit das FG der Klägerin für die Ausschüttung vom 16.03.2011 für die Erstattungsbeträge Zinsen für den Zeitraum vom Tag des Einbehalts der Kapitalertragsteuer bis zur Auszahlung zugesprochen hat.

69

a) Es ist für die Prüfung der Voraussetzungen des Verzinsungsanspruchs das tatsächlich durchgeführte Begehren –Erstattungsbegehren oder Steuerabstandnahmebegehren– heranzuziehen (vgl. BFH-Urteil vom 13.03.2024 –  I R 1/20, BStBl II 2025, 193, Rz 81). Für den hier betrachteten Zinsanspruch kommt es danach auf den unionsrechtswidrigen Widerruf der Freistellungsbescheinigung samt der Steuerabstandnahmemöglichkeit der B-AG an.

70

b) Ein unionsrechtlicher Verstoß im Rahmen der Steuererhebung, der einen Zinsanspruch begründen kann, kann sich –wie schon ausgeführt– auf jede Regel des Unionsrechts beziehen und sowohl von den Unionsgerichten als auch von einem nationalen Gericht festgestellt werden (s. II.3.a). Er kann ungeachtet des grundsätzlich unionsrechtskonformen Einbehalts der Kapitalertragsteuer mit dem Erfordernis einer anschließenden Erstattung im zweigeteilten Verfahren (s. II.3.b und c) auch dadurch begründet werden, dass eine dem Anteilseigner erteilte Freistellungsbescheinigung in unionsrechtswidriger Weise widerrufen wird. In diesem Fall beruht der unionsrechtswidrige Liquiditätsentzug darauf, dass der ausschüttenden Gesellschaft die Möglichkeit zur Abstandnahme vom Steuerabzug entzogen wird. Folglich beruht schon der Steuereinbehalt auf dem Unionsrechtsverstoß. Der Zinslauf beginnt –wie auch vom FG erkannt– ungeachtet eines späteren Erstattungsverfahrens, in dem die Erstattung nochmals unionsrechtswidrig vorenthalten wird, im Zeitpunkt des Steuereinbehalts und endet mit der Auszahlung des Erstattungsbetrags.

71

Für die Ausschüttung vom 16.03.2011 ist der erhebliche Unionsrechtsverstoß danach im Widerruf der zunächst erteilten Freistellungsbescheinigung zu sehen. Der Widerruf wurde vom BZSt ebenfalls auf § 50d Abs. 3 EStG 2007 gestützt, ohne dass es dabei auf konkrete Anhaltspunkte für eine missbräuchliche Gestaltung angekommen wäre; denn nach der damaligen Gesetzeslage waren solche Anhaltspunkte seitens des BZSt ex ante nicht zu prüfen, vielmehr musste von vorneherein der Steuerpflichtige den Nachweis fehlenden Missbrauchs erbringen, weshalb die Regelung wie dargelegt unionsrechtswidrig war. Wäre die Freistellungsbescheinigung nicht in unionsrechtswidriger Weise widerrufen worden, wäre für die Ausschüttung vom 16.03.2011 von der B-AG keine Kapitalertragsteuer einzubehalten gewesen.

72

c) Da sich die Klägerin im Wege des Einspruchs gegen den Widerruf der Freistellungsbescheinigung gewehrt hat, hat sie zudem die notwendigen Schritte zur Wahrung ihrer unionsrechtlichen Rechtsposition unternommen. Dass die Klägerin neben dem Einspruchsverfahren gegen den Widerruf der Freistellungsbescheinigung anschließend auch ein Erstattungsverfahren wegen der einbehaltenen Kapitalertragsteuer durchgeführt hat, ändert an dem für den Liquiditätsentzug kausal gewordenen Unionsrechtsverstoß im Freistellungsbescheinigungsverfahren nichts.

73

d) Die Entscheidung des FG ist insoweit im Ergebnis nicht zu beanstanden.

IV.

74

1. Der Senat erachtet die Unionsrechtslage auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH als eindeutig. Dies gilt für die grundsätzliche Unionsrechtskonformität des zweigeteilten Verfahrens, die unionsrechtswidrige Ausgestaltung und Anwendung der Regelung des § 50d Abs. 3 EStG 2007 und die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs. Ferner hat der EuGH aus Sicht des Senats bereits abschließend geklärt, dass der zuständigen Behörde nach der unionsrechtskonformen Erhebung eines Steuerbetrags in einem anschließenden Erstattungsverfahren nach dem Eingang eines vollständigen Erstattungsantrags ein angemessener Bearbeitungszeitraum zuzubilligen ist, während dem ein Liquiditätsentzug noch nicht durch eine unionsrechtswidrige Vorenthaltung der Erstattung verursacht ist. Die Bestimmung des angemessenen Bearbeitungszeitraums und der Zinszahlungsmodalitäten unter dem unionsrechtlichen Verzinsungsanspruch im jeweiligen Sachbereich („nach der Lage des Falles“) steht nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH den Gerichten der Mitgliedstaaten zu. Die weiteren Vorgaben des EuGH, den nach der Lage des Falles maßgeblichen Gesamtzeitraum zwischen dem Unionsrechtsverstoß und der Erstattung der Steuerbeträge in den Zinslauf einzubeziehen, hat der Senat im Rahmen der taggenauen Berechnung der Zinsen beachtet. Einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es daher nicht (EuGH-Urteile CILFIT vom 06.10.1982 – C-283/81, EU:C:1982:335, Slg. 1982, 3415; Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi vom 06.10.2021 – C-561/19, EU:C:2021:799; vgl. auch BVerfG-Beschlüsse vom 04.03.2021 – 2 BvR 1161/19, HFR 2021, 504; vom 08.11.2023 – 2 BvR 1079/20, HFR 2024, 357).

75

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.

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BFH: Keine nochmalige Einzahlung von bereits geleistetem Nennkapital im Fall einer wirtschaftlichen Neugründung

Der BFH hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob die erneute Leistung der Stammeinlage im Rahmen einer wirtschaftlichen Neugründung im Rahmen der Feststellung des steuerlichen Einlagekontos als nicht bestandserhöhende Leistung in das Nennkapital zu qualifizieren ist (Az. VIII R 22/22).

BFH, Urteil VIII R 22/22 vom 25.02.2025

Leitsatz

  1. Eine Leistung in das Nennkapital einer AG liegt vor, soweit der Aktionär mit seiner Zahlung an die Gesellschaft die durch die Übernahme der Aktien entstandene Einlageforderung der Gesellschaft erfüllt und dadurch zum Erlöschen bringt.
  2. Im Fall der wirtschaftlichen Neugründung lebt die durch die Einlageleistung der Gründer bereits erloschene Einlageforderung der AG nicht wieder auf.
  3. Eine im Zusammenhang mit einer wirtschaftlichen Neugründung erbrachte Einlage ist nach § 27 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes im steuerlichen Einlagekonto auszuweisen, sofern sie nicht zur Erfüllung noch nicht eingeforderter ausstehender Einlagen erbracht worden ist.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28.09.2022 – 9 K 1869/20 F wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten über den Bestand des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2018.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine mit einem Grundkapital in Höhe von 50.000 € errichtete AG. Gegenstand der Klägerin war zunächst …

3

Nach dem Jahresabschluss zum 31.12.2017 verfügte die Klägerin über ein Bankguthaben in Höhe von 187,50 €. Auf der Passivseite der Bilanz wurden ein Fehlbetrag in Höhe von 854,24 € und ein Verlustvortrag in Höhe von 14.229,84 € ausgewiesen. Vom gezeichneten Kapital in Höhe von 50.000 € standen 37.500 € noch aus. Mit notariellem Vertrag vom 20.07.2018 wurden die 50 000 nennwertlosen Stückaktien der Klägerin an einen neuen Alleingesellschafter veräußert.

4

Am 25.07.2018 beschloss die Hauptversammlung der Klägerin eine neue Satzung, änderte die Firma in A AG und verlegte den Sitz nach H. Unternehmensgegenstand war danach … sowie … Der neue Alleinaktionär wurde Vorstand. Am 10.09.2018 überwies er 12.500 € unter dem Verwendungszweck „Einlage 25 Prozent Stammkapital“ auf das Girokonto der Klägerin. Mit der Anmeldung zum Handelsregister gab die Klägerin an, es habe eine wirtschaftliche Neugründung stattgefunden. Die Anmeldung enthielt die Versicherung, dass die Klägerin mindestens über ein Gesellschaftsvermögen in Höhe von einem Viertel der Grundkapitalziffer (also mindestens 12.500 €) verfüge und dass das Vermögen endgültig zur freien Verfügung des Vorstands stehe.

5

Mit Erklärung vom 08.01.2020 zur gesonderten Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2018 gab die Klägerin den Bestand des steuerlichen Einlagekontos zum Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahrs mit 0 € und im Wirtschaftsjahr geleistete Einlagen von 2.827 € und 12.500 € an. Im Jahresabschluss zum 31.12.2018 wies die Klägerin auf der Passivseite ein gezeichnetes Kapital in Höhe von 50.000 € aus (37.500 € ausstehende Einlagen und 12.500 € Kapitalrücklage).

6

Der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt –FA–) folgte dem nicht. Die Einzahlung von 12.500 € im Rahmen der wirtschaftlichen Neugründung sei in das Nennkapital geleistet worden. Mit Bescheid zum 31.12.2018 über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 27 Abs. 2 des im Streitzeitraum anzuwendenden Körperschaftsteuergesetzes (KStG) vom 08.04.2020 stellte das FA den Bestand des steuerlichen Einlagekontos mit 2.827 € fest.

7

Das Finanzgericht (FG) hat der nach erfolglosem Einspruch eingelegten Klage stattgegeben und den Bestand des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2018 mit 15.327 € festgestellt. Die Einzahlung in Höhe von 12.500 € vom 10.09.2018 sei nicht in das Nennkapital geleistet worden und erhöhe deshalb den Bestand des steuerlichen Einlagekontos. Die Begründung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 221 veröffentlicht.

8

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung von § 27 KStG.

9

Das FA beantragt, das Urteil des FG Münster vom 28.09.2022 – 9 K 1869/20 F aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Die Klägerin beantragt, die Revision des FA zurückzuweisen.

II.

11

Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Die Klage ist zulässig (1.). Ohne Rechtsfehler hat das FG erkannt, dass die Einlage in Höhe von 12.500 € den Bestand des steuerlichen Einlagekontos erhöht hat (2.).

12

1. Die Klage ist zulässig. Die Klägerin ist insbesondere hinsichtlich der gesonderten Feststellung gemäß § 27 Abs. 2 KStG klagebefugt. Davon ist das FG zu Recht (stillschweigend) ausgegangen.

13

Der Feststellungsbescheid gemäß § 27 Abs. 2 KStG richtet sich gegen die Klägerin als Inhaltsadressatin. Obgleich dem steuerlichen Einlagekonto für die eigene Ertragsbesteuerung der Klägerin keine unmittelbare Bedeutung zukommt, kann sie gegen den Feststellungsbescheid außergerichtlich und gerichtlich vorgehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 21.12.2022 –  I R 53/19, BFHE 278, 435, BStBl II 2023, 504, Rz 15, m.w.N.).

14

2. Ohne Rechtsfehler hat das FG erkannt, dass die im Streitjahr geleistete Einlage von 12.500 € den Bestand des steuerlichen Einlagekontos auf 15.327 € erhöht hat, da sie nicht in das Nennkapital geleistet worden ist.

15

a) Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KStG hat eine unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaft die nicht in das Nennkapital geleisteten Einlagen am Schluss jedes Wirtschaftsjahrs auf einem besonderen Konto (steuerliches Einlagekonto) auszuweisen. Das steuerliche Einlagekonto bezweckt, die im Fall der Einlagenrückgewähr (§ 27 Abs. 1 Satz 3 KStG) nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht steuerbaren Bezüge von grundsätzlich steuerpflichtigen Gewinnausschüttungen zu separieren (vgl. BFH-Urteil vom 06.10.2009 –  I R 24/08, BFH/NV 2010, 248, unter B.I.1., m.w.N.). Ausgenommen sind in das Nennkapital geleistete Einlagen. Sie werden nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KStG nicht im steuerlichen Einlagekonto erfasst. Dabei handelt es sich um das durch Einlagen aufgebrachte (echte) Nennkapital. Zwar ist auch dessen Rückzahlung nicht steuerbar (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 EStG), es bedarf insoweit aber keiner gesonderten Feststellung, weil das Nennkapital bereits in der Bilanz gesondert ausgewiesen wird.

16

b) Eine Leistung in das Nennkapital einer AG liegt vor, soweit der Aktionär mit seiner Zahlung an die Gesellschaft die durch die Übernahme der Aktien entstandene Einlageforderung der Gesellschaft erfüllt und dadurch zum Erlöschen bringt.

17

aa) Nennkapital einer AG ist das in der Satzung bestimmte Grundkapital (§§ 5, 6 des Aktiengesetzes –AktG–). Nach der Übernahme aller Aktien durch die Gründer (§ 29 AktG) im Zuge der Errichtung muss die Gesellschaft vor der Anmeldung zum Handelsregister einen Teil der Einlage von den Aktionären einfordern, soweit nicht Sacheinlagen vereinbart sind (§ 36 Abs. 2, § 36a Abs. 1 AktG). Die Aktionäre müssen die geschuldete und eingeforderte Einlage zur freien Verfügung des Vorstands einzahlen (§ 54 Abs. 3 AktG). Geschieht dies, bewirken die Aktionäre eine Einzahlung in das Nennkapital. Sie bringen dadurch in Höhe der geleisteten Einlage die Einlageforderung der Gesellschaft durch Erfüllung zum Erlöschen (§ 362 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs); in Höhe der noch nicht eingeforderten und noch nicht erbrachten Einlage bleiben sie zur Leistung verpflichtet.

18

bb) In der Handelsbilanz wird das Grundkapital der Gesellschaft als gezeichnetes Kapital ausgewiesen (§ 266 Abs. 3 des Handelsgesetzbuchs –HGB–), wobei die ausstehenden (noch nicht eingeforderten und noch nicht geleisteten) Einlagen auf das gezeichnete Kapital von dem Posten „Gezeichnetes Kapital“ offen abzusetzen sind (§ 272 Abs. 1 Satz 2 HGB). Aus der Bilanz ist mithin ersichtlich, in welcher Höhe Einzahlungen in das Nennkapital erbracht worden sind und in welcher Höhe das Nennkapital noch als Forderung gegen die Gesellschafter fortbesteht (ausstehende Einlagen).

19

cc) Mit der Anmeldung der Gesellschaft zum Handelsregister ist unter anderem nachzuweisen, dass der auf die eingeforderte Einlage eingezahlte Betrag endgültig zur freien Verfügung des Vorstands steht (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AktG); bei Einzahlung auf ein Bankkonto der Gesellschaft ist der Nachweis durch eine Bestätigung des kontoführenden Instituts zu führen (§ 37 Abs. 1 Satz 3 AktG).

20

dd) Im Fall einer wirtschaftlichen Neugründung einer Kapitalgesellschaft sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) die der Gewährleistung der Kapitalausstattung dienenden Gründungsvorschriften einschließlich der registergerichtlichen Kontrolle entsprechend anzuwenden (vgl. BGH-Beschluss vom 09.12.2002 –  II ZB 12/02, BGHZ 153, 158, unter III.1.). Das bedeutet, dass die wirtschaftliche Neugründung beim Registergericht anzumelden ist, um diesem eine (erneute) Gründungsprüfung zu ermöglichen und sicherzustellen, dass die Gesellschaft im Zeitpunkt der Neugründung über ein Vermögen in Höhe der auf das Grundkapital geleisteten Einlagen tatsächlich noch verfügt (vgl. BGH-Urteil vom 12.03.2007 –  II ZR 302/05, BGHZ 171, 293, unter II.1.). Unterbleibt die Offenlegung der wirtschaftlichen Neugründung, haftet der Gesellschafter begrenzt auf eine Unterbilanz, die in dem Zeitpunkt besteht, zu dem die wirtschaftliche Neugründung entweder durch die Anmeldung der Satzungsänderungen oder durch die Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit erstmals nach außen in Erscheinung getreten ist (vgl. BGH-Urteil vom 06.03.2012 –  II ZR 56/10, BGHZ 192, 341, unter II.3.b bb).

21

c) Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat der Alleinaktionär der Klägerin im Zuge der wirtschaftlichen Neugründung der Klägerin, wie vom FG zutreffend entschieden, nicht in das Nennkapital der Gesellschaft geleistet.

22

aa) Bei der Überweisung vom 10.09.2018 in Höhe von 12.500 € auf das Girokonto der Klägerin handelte es sich unstreitig um eine Einlage (zum Begriff BFH-Urteil vom 30.11.2005 –  I R 26/04, BFH/NV 2006, 616, unter B.I.3.b, m.w.N.).

23

bb) Der Alleinaktionär der Klägerin hat im Zuge der wirtschaftlichen Neugründung nicht auf die ausstehenden Einlagen geleistet. Das hat das FG in tatsächlicher Hinsicht und für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO) festgestellt. In der Bilanz der Klägerin zum 31.12.2018 sind die ausstehenden Einlagen unverändert mit 37.500 € ausgewiesen. Der Alleinaktionär der Klägerin wollte mit der Einzahlung von 12.500 € zudem erkennbar nur die Voraussetzungen für die Eintragung der wirtschaftlichen Neugründung erfüllen. Insofern bestand keine Veranlassung, auf die ausstehenden Einlagen zu leisten. Weder hatte die Klägerin diese eingefordert noch wäre eine Zahlung auf die ausstehenden Einlagen geeignet gewesen, die bis zur wirtschaftlichen Neugründung entstandene Unterbilanz zu beseitigen.

24

cc) Der Alleinaktionär der Klägerin hat auch nicht (erneut) auf die bei Gründung der Klägerin bereits eingezahlte Einlage geleistet. Im Streitfall war bei Gründung der Klägerin entsprechend § 36a Abs. 1 AktG ein Viertel des gezeichneten Kapitals eingezahlt worden. Insoweit ist die ursprüngliche Einlageforderung der Klägerin durch Erfüllung erloschen. Eine erneute Leistung auf diese bereits erloschene Forderung war nicht möglich.

25

dd) Etwas anderes ergibt sich nicht aus der Rechtsprechung des BGH zur wirtschaftlichen Neugründung. Zu Recht hat das FG darauf hingewiesen, dass bereits eingezahltes Nennkapital bilanziell unverändert auszuweisen ist, solange nicht eine Kapitalherabsetzung erfolgt oder das Nennkapital nach Auflösung der Gesellschaft ausgezahlt wird. Der Rechtsprechung des BGH ist nicht zu entnehmen, dass eine durch Einlageleistung der Gründer bereits erloschene Einlageforderung der Kapitalgesellschaft im Fall der wirtschaftlichen Neugründung wiederauflebt. Insofern erscheint die Formulierung des FG, wonach das Nennkapital „wiederaufgefüllt“ werden müsse, zumindest missverständlich. „Wiederaufgefüllt“ werden muss –zur Vermeidung einer Unterbilanzhaftung– das Vermögen der Gesellschaft, soweit es den Betrag der bei der Gründung nachzuweisenden Mindesteinzahlung auf das Grundkapital im Zeitpunkt der wirtschaftlichen Neugründung unterschreitet (vgl. BGH-Beschluss vom 09.12.2002 –  II ZB 12/02, BGHZ 153, 158, Rz 12). Diese Einzahlung dient dem Gläubigerschutz und soll gewährleisten, dass im Fall der wirtschaftlichen Neugründung die Anforderungen an die reale Kapitalaufbringung wie im Fall der Gründung beachtet werden (vgl. BGH-Beschluss vom 07.07.2003 –  II ZB 4/02, BGHZ 155, 318, unter III.2.). Das bedeutet nicht, dass (erneut) in das Nennkapital geleistet werden muss oder geleistet werden kann. Dem Gläubigerschutz ist in gleicher Weise genügt, wenn die Einzahlung bei der Gesellschaft als Kapitalrücklage erfasst wird.

26

ee) Unerheblich ist, dass der Alleinaktionär der Klägerin als Verwendungszweck der Einzahlung „Einlage 25 Prozent Stammkapital“ angegeben hat. Dabei handelte es sich, wie das FG zu Recht ausgeführt hat, um eine unschädliche Falschbezeichnung. Der Sache nach handelt es sich um eine Einzahlung in die Kapitalrücklage, die den Bestand des steuerlichen Einlagekontos erhöht.

27

3. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO).

28

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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BFH: Mitteilung über ergebnislose Außenprüfung ist kein Verwaltungsakt

Der BFH hatte zu entscheiden, ob es sich bei der Mitteilung des Finanzamts an den Steuerpflichtigen, dass die Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt habe (§ 202 Abs. 1 Satz 3 AO), um einen Verwaltungsakt handelt (Az. IV R 17/22).

BFH, Urteil IV R 17/22 vom 20.02.2025

Leitsatz

Eine Mitteilung an den Steuerpflichtigen, dass die durchgeführte Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt hat (§ 202 Abs. 1 Satz 3 der Abgabenordnung ‑ AO ‑), stellt ‑ obwohl sie eine Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 Satz 2 AO bewirkt ‑ keinen Verwaltungsakt dar (Bestätigung der Rechtsprechung).

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 17.05.2022 – 13 K 254/20 wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Gründe

I.

1

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb bis zum Jahr 2009 ein Einzelunternehmen als Betreuer auf Honorarbasis. Im Jahr 2009 gründete er zusammen mit Herrn A die AB-GbR. Der Kläger war daran zu 60,5 % beteiligt.

2

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) erließ erklärungsgemäße Bescheide über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (Gewinnfeststellungsbescheide) für die AB-GbR; am 03.02.2012 für das Jahr 2010, am 26.09.2012 für das Jahr 2011. Darin wurde dem Kläger ein Anteil an dem Gesamthandsgewinn der AB-GbR von 43.157,11 € (2010) und 32.545,16 € (2011) zugerechnet. Hiergegen wurden keine Rechtsbehelfe eingelegt.

3

Mit seiner Einkommensteuererklärung 2010 reichte der Kläger im Jahr 2012 eine auf den Namen der AB-GbR lautende Anlage EÜR ein. Darin wurden Betriebseinnahmen in Höhe von 43.157,11 € und Betriebsausgaben in Höhe von 9.180,99 € erklärt. In dem Einkommensteuerbescheid 2010 für den Kläger vom 14.12.2012 berücksichtigte das FA die erklärten Einnahmen aus Beteiligung in Höhe von 43.157 €. Der Kläger legte hiergegen Einspruch ein und verwies darauf, dass die geltend gemachten Aufwendungen nicht allein mit seiner Tätigkeit für die AB-GbR zusammenhingen, sondern er entsprechende Aufwendungen gehabt habe, um bei seinem Einzelunternehmen die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Mit unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehendem Einkommensteuer-Änderungsbescheid für 2010 vom 27.05.2014 erkannte das FA die geltend gemachten Aufwendungen bei den Einkünften des Klägers an.

4

Mit seiner Einkommensteuererklärung 2011 machte der Kläger unter anderem negative Einkünfte von 3.438 € für „ambulante Betreuungen“ geltend. Der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Einkommensteuerbescheid 2011 vom 21.03.2014 berücksichtigte den erklärten Verlust bei den Einkünften des Klägers. Die Einkünfte aus der Beteiligung des Klägers an der AB-GbR wurden ebenfalls berücksichtigt.

5

Das FA führte bei der AB-GbR für die Gewinnfeststellung 2010 bis 2012 eine Außenprüfung durch, die ohne Änderung der Besteuerungsgrundlagen beendet wurde. Dies wurde dem Steuerberater der AB-GbR mit Schreiben vom 19.05.2015 mitgeteilt. Parallel zu der Außenprüfung bei der AB-GbR wurde auch bei dem Kläger die Einkommensteuer 2010 bis 2012 geprüft. Der Prüfer kam dort zu dem Ergebnis, dass die von dem Kläger geltend gemachten Aufwendungen Sonderbetriebsausgaben bei der AB-GbR darstellten und in keinem Zusammenhang mit dem Einzelunternehmen des Klägers stünden. Daraufhin änderte das FA die Einkommensteuerbescheide des Klägers für 2010 und 2011 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) und berücksichtigte die geltend gemachten Betriebsausgaben nicht mehr.

6

Am 29.07.2015 beantragte die AB-GbR die Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 und begründete dies mit den Feststellungen der Außenprüfung bei dem Kläger. Die Aufwendungen müssten bei der AB-GbR als Sonderbetriebsausgaben des Klägers abgezogen werden.

7

Das FA lehnte diesen Antrag ab. Der dagegen eingelegte Einspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger habe es grob schuldhaft unterlassen, im Rahmen der Erklärungen zur Gewinnfeststellung 2010 und 2011 für die AB-GbR seine Sonderbetriebsausgaben zu erklären. Eine Änderungsbefugnis sei nicht mehr gegeben.

8

Die dagegen im ersten Rechtszug zum Niedersächsischen Finanzgericht (FG) erhobene Klage wurde mit Urteil vom 01.03.2017 – 2 K 56/16 als unbegründet abgewiesen. Die begehrten Änderungen könnten weder auf § 174 Abs. 3 AO noch auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützt werden.

9

Dieses Urteil des FG hob der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 10.09.2020 –  IV R 6/18 (BFHE 270, 87, BStBl II 2021, 197) auf und verwies die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück. Eine Änderungsbefugnis nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO scheitere nicht an einem groben Verschulden des Klägers. Denn es lägen mit den von dem Kläger geltend gemachten Sonderbetriebsausgaben nicht nur nachträglich bekannt gewordene Tatsachen vor, die zu niedrigeren Einkünften bei der AB-GbR führten, sondern es ergäben sich daraus auch gegenläufige Gewinnauswirkungen bei der Einkommensteuer des Klägers. Es sei im zweiten Rechtsgang noch zu klären, ob die streitigen Aufwendungen des Klägers als Sonderbetriebsausgaben des Klägers bei der AB-GbR veranlasst seien und ob die Voraussetzungen einer Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO vorlägen, sofern eine Mitteilung über eine ergebnislose Außenprüfung bei der AB-GbR nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO erfolgt sei.

10

Das FG wies die Klage im zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 17.05.2022 – 13 K 254/20 erneut ab. Die Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 für die AB-GbR seien nicht mehr änderbar. Es greife die Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO wegen der Mitteilung über die ergebnislose Außenprüfung bei der AB-GbR ein. Bei dieser Mitteilung handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt; ein nachfolgend eingereichtes Schreiben des Klägers könne deshalb keinen Einspruch darstellen.

11

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von Bundesrecht, insbesondere eine unzutreffende Auslegung des § 202 AO.

12

Die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 Satz 2 AO stehe der begehrten Änderung nicht entgegen. Die Annahme des FG, die Mitteilung über die ergebnislose Außenprüfung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO stelle keinen Verwaltungsakt dar, sei rechtsfehlerhaft. Dem stehe die Mehrheit der Äußerungen in der Fachliteratur entgegen, die darin einen rechtsbehelfsfähigen Verwaltungsakt erkenne. Um dem Steuerpflichtigen den Rechtsschutz nicht abzuschneiden, müsse dieser Mitteilung der Charakter eines anfechtbaren Verwaltungsakts zukommen. Dementsprechend sei das Schreiben des Klägers vom 29.07.2015 in einen Einspruch gegen diese Mitteilung umzudeuten. Über diesen müsse das FA noch entscheiden.

13

Der Kläger beantragt sinngemäß, das FA unter Aufhebung des Urteils des FG vom 17.05.2022 – 13 K 254/20, des Ablehnungsbescheids vom 09.09.2015 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 29.03.2016 zu verpflichten, die Gewinnfeststellungsbescheide 2010 vom 03.02.2012 und 2011 vom 26.09.2012 betreffend die AB-GbR dahingehend zu ändern, dass Sonderbetriebsausgaben für den Kläger für 2010 in Höhe von 8.599,99 € sowie für 2011 in Höhe von 2.637,56 € berücksichtigt werden.

14

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

15

Das FA und der Kläger haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

II.

16

Die Revision ist unbegründet und war zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

17

1. Gegenstand des Verfahrens ist die Frage der Zulässigkeit einer Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 wegen des Abzugs von Sonderbetriebsausgaben des Klägers.

18

a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann ein Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen nach § 179, § 180 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO eine Vielzahl selbstständiger und damit auch selbstständig anfechtbarer Feststellungen enthalten, die eigenständig in Bestandskraft erwachsen. Solche selbstständigen Feststellungen sind unter anderem die Feststellung eines Sonderbetriebsgewinns –verstanden als Saldo von Sonderbetriebseinnahmen und -ausgaben– beziehungsweise einer Sondervergütung im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 Halbsatz 2 des Einkommensteuergesetzes (z.B. BFH-Urteil vom 23.03.2023- IV R 8/20 (IV R 7/17), Rz 22, m.w.N.).

19

b) Der Kläger macht den Abzug von bisher nicht berücksichtigten Sonderbetriebsausgaben in Höhe von 8.599,99 € (2010) sowie 2.637,56 € (2011) geltend und begehrt eine entsprechende Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide der AB-GbR für die Jahre 2010 und 2011.

20

2. Eine Beiladung des A als weiterer ehemaliger Gesellschafter der AB-GbR nach § 60 Abs. 3 FGO war nicht geboten, da er durch die allein streitige Feststellung von Sonderbetriebsausgaben des Klägers nicht betroffen ist (vgl. BFH-Urteil vom 17.03.2021 –  IV R 20/18, BFHE 272, 440, BStBl II 2021, 904, Rz 20).

21

3. Die Revision ist unbegründet. Das FG hat die zulässige Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Den begehrten Änderungen der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 für die AB-GbR wegen neuer Tatsachen steht eine Änderungssperre gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 173 Abs. 2 Satz 2 AO entgegen.

22

a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln stehen, die nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu einer höheren Steuer führen. Diese Regelung ist nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO sinngemäß auch auf Feststellungsbescheide anzuwenden (BFH-Urteil –im ersten Rechtsgang– vom 10.09.2020 –  IV R 6/18, BFHE 270, 87, BStBl II 2021, 197, Rz 27, 38).

23

b) Aufgrund der Bindung des Senats an seine im ersten Rechtsgang getroffene Entscheidung steht fest, dass die Voraussetzungen für eine Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gegeben sind und ein Verschulden des Klägers der begehrten Änderung nicht entgegensteht.

24

aa) Die Verpflichtung des FG, nach einer Zurückverweisung der Sache gemäß § 126 Abs. 5 FGO seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des BFH zugrunde zu legen, gilt grundsätzlich im selben Umfang für den BFH und bewirkt insoweit eine Selbstbindung. Sie kann nur entfallen, wenn sich nachträglich die maßgebenden Umstände geändert haben, weil sich entweder der zugrunde gelegte Sachverhalt in einer für die Entscheidung erheblichen Weise geändert hat, sich einschlägige Gesetzesbestimmungen rückwirkend geändert haben oder sich die höchstrichterliche Rechtsprechung –unabhängig von dem Streitfall– geändert hat (z.B. BFH-Urteil vom 13.11.2017 –  XI R 12/16, Rz 19 f., m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

25

bb) Damit steht aufgrund des BFH-Urteils im ersten Rechtsgang vom 10.09.2020 –  IV R 6/18 (BFHE 270, 87, BStBl II 2021, 197) unter anderem fest, dass für eine Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 nach § 181 Abs. 1 Satz 1, § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ein grobes Verschulden des Klägers zwar gegeben, aber nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO unbeachtlich ist. Denn aus seinen Einkommensteuerbescheiden 2010 und 2011 ergeben sich gegenläufige, steuererhöhende Einkünfte betreffend die begehrte Korrektur der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011.

26

c) Die beantragte Änderung der Gewinnfeststellungsbescheide kommt gleichwohl nicht in Betracht, da die AB-GbR diese erst beantragt hat, als die Außenprüfung bereits durchgeführt und ihr mitgeteilt worden war, dass keine Änderung der Besteuerungsgrundlagen erfolgt. Damit war bereits eine Änderungssperre eingetreten, die der begehrten Korrektur entgegensteht.

27

aa) Nach § 173 Abs. 2 Satz 1 AO können Steuerbescheide, soweit sie aufgrund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt nach § 173 Abs. 2 Satz 2 AO auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO gegenüber dem Steuerpflichtigen erfolgt ist, dass die Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen führt.

28

bb) Die in § 173 Abs. 2 AO angeordnete Änderungssperre gilt nur für Änderungen auf der Grundlage von § 173 Abs. 1 AO wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel, nicht für Korrekturen aufgrund anderer Rechtsgrundlagen, etwa § 164 Abs. 2 AO, oder für Erstbescheide (BFH-Urteile vom 22.08.1990 –  I R 76/88, BFH/NV 1991, 341, unter II.3.b [Rz 13]; vom 14.09.1993 –  VIII R 9/93, BFHE 175, 391, BStBl II 1995, 2, unter II.1.c [Rz 18]; vom 18.08.2009 –  X R 8/09, BFH/NV 2010, 161, unter II.3.b [Rz 20]; vom 25.11.2015 –  I R 50/14, BFHE 253, 52, BStBl II 2017, 247, Rz 21).

29

cc) Der Zweck der Änderungssperre in § 173 Abs. 2 AO besteht darin, Steuerverwaltungsakten im Interesse des Rechtsfriedens eine verstärkte Bestandskraft zu verleihen, wenn sie das Ergebnis einer Außenprüfung sind (vgl. Regierungsentwurf einer Abgabenordnung in BTDrucks VI/1982, S. 153). Die mit einer Außenprüfung einhergehende umfassende und zusammenhängende Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen rechtfertigt es, den auf dieser Grundlage ergangenen Steuerbescheiden eine erhöhte Rechtsbeständigkeit zu verleihen. Sie sollen nur unter erschwerten Bedingungen korrigiert werden dürfen (z.B. BFH-Urteile vom 11.12.1997 –  V R 56/94, BFHE 185, 98, BStBl II 1998, 367, unter II.2.c dd [Rz 42]; vom 16.06.2004 –  X R 56/01, BFH/NV 2004, 1502, unter II.3.c [Rz 34]).

30

Die Änderungssperre soll in erster Linie den Schutz des Steuerpflichtigen bezwecken. Nach Durchführung und Auswertung einer Außenprüfung soll er vor Steuernachforderungen aufgrund neuer Tatsachen sicher sein (BFH-Urteile vom 31.08.1990 –  VI R 78/86, BFHE 161, 539, BStBl II 1991, 537 [Rz 12]; vom 18.02.2009 –  V R 82/07, BFHE 225, 198, BStBl II 2009, 876, unter II.4.c aa [Rz 49]). Gleichwohl gilt eine Änderungssperre zugunsten wie zuungunsten des Steuerpflichtigen (BFH-Urteile vom 29.01.1987 –  IV R 96/85, BFHE 149, 201, BStBl II 1987, 410, unter 3. [Rz 11 ff.]; vom 11.12.1997 –  V R 56/94, BFHE 185, 98, BStBl II 1998, 367, unter II.2.b [Rz 21]).

31

dd) § 173 Abs. 2 Satz 2 AO ist auch auf Gewinnfeststellungen anzuwenden.

32

Nach § 181 Abs. 1 Satz 1 AO gelten die Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung für die gesonderte Feststellung sinngemäß. Eine besonders verfestigte Bestandskraft (dazu oben unter II.3.c cc) von Steuerbescheiden, die nach Durchführung einer Außenprüfung ergehen, ist auch dann gerechtfertigt, wenn gesondert und einheitlich festgestellte Einkünfte beziehungsweise mit diesen in Zusammenhang stehende Besteuerungsgrundlagen durch die Außenprüfung überprüft wurden und kein Änderungsbedarf festgestellt wurde.

33

d) Bei der die Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 Satz 2 AO auslösenden Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO handelt es sich nicht um einen (anfechtbaren) Verwaltungsakt, sondern um einen Realakt, den der Kläger nicht (mit der Folge des Wegfalls der Änderungssperre) im Wege der Anfechtung beseitigen konnte.

34

aa) Ein Verwaltungsakt ist nach § 118 Satz 1 AO jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist.

35

bb) In der Fachliteratur wird ganz überwiegend angenommen, dass es sich bei der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO um einen Verwaltungsakt handele (so Hendricks in Gosch, AO § 202 Rz 27; BeckOK AO/Hannig, 31. Ed. 01.01.2025, AO § 202 Rz 29; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 202 AO Rz 52; Koenig/Intemann, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 202 Rz 17; Seer in Tipke/Kruse, § 202 AO Rz 16; anderer Ansicht aber Klein/Maetz, AO, 18. Aufl., § 202 Rz 9).

36

Zur Begründung wird im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Mitteilung unmittelbare Rechtsfolgen, darunter den Eintritt der Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO, die Erledigung der Prüfungsanordnung, die Verpflichtung zur Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nach § 164 Abs. 3 Satz 3 AO und die Verlängerung der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 4 Satz 1 AO bewirke. Ein –statthafter– Einspruch gegen die Mitteilung sei deshalb begründet, wenn die Außenprüfung Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen übersehen habe und eine Steuererstattung möglich sei. Die Anfechtbarkeit der Mitteilung gebiete auch der verfassungsrechtliche Anspruch auf umfassenden Rechtsschutz.

37

cc) Der Senat hält indes an der Rechtsprechung des BFH fest, wonach der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO nicht die Qualität eines Verwaltungsakts zukommt, da sie keine für die Annahme eines Verwaltungsakts erforderliche Regelung trifft (BFH-Urteile vom 29.04.1987 –  I R 118/83, BFHE 149, 508, BStBl II 1988, 168, unter II.1.b [Rz 17 ff.]; vom 14.09.1993 –  VIII R 9/93, BFHE 175, 391, BStBl II 1995, 2, unter II.1.c [Rz 20]; offengelassen in BFH-Urteil vom 31.08.1990 –  VI R 78/86, BFHE 161, 539, BStBl II 1991, 537 [Rz 10]).

38

(1) Der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO kommt, ebenso wie dem Prüfungsbericht, lediglich eine Dokumentations- und Protokollfunktion zu – sie gibt nur Auskunft über das tatsächliche Ergebnis der durchgeführten Außenprüfung. Die Mitteilung ist auch im Hinblick auf § 171 Abs. 4 und § 173 Abs. 2 AO kein Verwaltungsakt, weil sie die dort genannten Rechtsfolgen (Beendigung der Ablaufhemmung; Eintritt der Änderungssperre) nicht regelnd anordnet. Stattdessen knüpfen die Rechtsfolgen der genannten Vorschriften an die Mitteilung im Sinne des § 202 Abs. 1 Satz 3 AO als ein im Tatsächlichen liegendes Tatbestandsmerkmal an (BFH-Urteil vom 29.04.1987 –  I R 118/83, BFHE 149, 508, BStBl II 1988, 168, unter II.1.b [Rz 18 f.]).

39

(2) Die Qualifikation der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO als Realakt verstößt auch nicht gegen das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes.

40

(a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes garantiert jedem den Rechtsweg, der geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in eigenen Rechten verletzt zu sein. Damit wird sowohl der Zugang zu den Gerichten als auch die Wirksamkeit des Rechtsschutzes gewährleistet. Der Bürger hat einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle in allen ihm von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen (z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 31.05.2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1, Rz 68).

41

Dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz kommen bereits Vorwirkungen auf das dem gerichtlichen Verfahren vorgelagerte Verwaltungsverfahren zu. Danach darf dieses Verfahren nicht darauf angelegt werden, den gerichtlichen Rechtsschutz zu vereiteln oder unzumutbar zu erschweren. Daraus ergeben sich zunächst und in erster Linie Anforderungen an das Verhalten der Verwaltungsbehörde im Verwaltungsverfahren; sie darf zum Beispiel spätere Nachprüfungsmöglichkeiten des Gerichts nicht ausschalten. Ferner darf dem Bürger, dessen Verhalten im Verwaltungsverfahren dazu geführt hat, dass ihm ein Recht nicht zuerkannt worden ist, nicht die Möglichkeit genommen oder unzumutbar erschwert werden, vor einem Gericht geltend zu machen, ihm stehe das Recht zu (BVerfG-Urteil vom 24.04.1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfGE 69, 1, Rz 107).

42

(b) Aus dem Grundgesetz ergibt sich allerdings keine allgemeine Verpflichtung der Verwaltung, rechtswidrig belastende und rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben oder abzuändern (z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 27.02.2007 – 1 BvR 1982/01, BVerfGE 117, 302, Rz 33; vom 30.01.2008 – 1 BvR 943/07, Rz 26). Dem Gesetzgeber steht die Befugnis zu, den Konflikt zwischen Rechtssicherheit, Rechtsfrieden, Gerechtigkeit und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Schaffung der normativen Vorgaben für die Verwaltung auszugleichen. Die Verwaltung muss im Verwaltungsverfahren bei Anwendung dieser Normen im Einzelfall auch den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten (BVerfG-Nichtannahmebeschluss vom 10.06.2009 – 1 BvR 571/07, Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 15, 545, Rz 27 f.).

43

(c) Unter Berücksichtigung der dargestellten Grundsätze ist es danach nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Grundlagen für die Änderung bestandskräftiger Verwaltungsakte davon ausgeht, dass die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit eher zugunsten der Rechtssicherheit ausfällt, je umfangreicher und gründlicher das der Entscheidung vorangegangene Entscheidungsverfahren war, eine Durchbrechung der Bestandskraft hingegen leichter zu erreichen ist, wenn die Fehleranfälligkeit des Verfahrens erhöht ist (vgl. Wernsmann in HHSp, § 130 AO Rz 28; Loose in Tipke/Kruse, vor §§ 130 bis 133 AO Rz 11). Hat danach eine umfassende Aufklärung der Besteuerungsgrundlagen durch eine Außenprüfung stattgefunden, bei der der Steuerpflichtige selbst zur Mitwirkung befugt und auch verpflichtet ist, so ist es folgerichtig, wenn § 173 Abs. 2 AO –in gleichem Maße zugunsten wie zuungunsten– für den Steuerpflichtigen wie für die Finanzbehörde die Möglichkeit der Änderung von Steuerverwaltungsakten wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen einschränkt, wenn diese Tatsachen nicht in einer vorangegangenen Außenprüfung festgestellt und einbezogen wurden, und dementsprechend auch die Möglichkeit des Steuerpflichtigen, durch nach Durchführung einer Außenprüfung gestellte Anträge eine Änderung der von der Prüfung ermittelten Besteuerungsgrundlagen zu erreichen, zugunsten von Rechtssicherheit, Rechtsfrieden und Rechtsbeständigkeit beschränkt.

44

Dies ist auch vor dem Hintergrund sachgerecht, dass sich ein während der Außenprüfung gestellter Änderungsantrag des Steuerpflichtigen nicht durch eine nachfolgende Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO erledigt. Beantragt der Steuerpflichtige während der Außenprüfung, einen Verwaltungsakt zu erlassen oder einen bereits ergangenen Verwaltungsakt aufzuheben oder zu ändern, und kommt die Außenprüfung stattdessen zu dem Ergebnis, dass keine Änderung der Besteuerungsgrundlagen veranlasst ist und teilt dies dem Steuerpflichtigen mit, so beseitigt dies nicht die Verpflichtung der Finanzbehörde, über den Antrag des Steuerpflichtigen zu entscheiden (vgl. auch § 171 Abs. 3 AO). Auch das Recht auf effektiven Rechtsschutz erfordert daher nicht, eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO als (anfechtbaren) Verwaltungsakt zu qualifizieren.

45

(3) Im Ergebnis liefe es dem Zweck der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO, die Ergebnisse der Außenprüfung zu protokollieren, dem Zweck der Änderungssperre nach § 173 Abs. 2 AO, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen, sowie den bestehenden Mitwirkungspflichten und -möglichkeiten des Steuerpflichtigen innerhalb der Außenprüfung entgegen, ihm nach ergebnisloser Durchführung einer Außenprüfung auch dann eine weitere Überprüfung der Besteuerungsgrundlagen (durch Qualifizierung der Mitteilung als Verwaltungsakt) zu eröffnen, wenn er zuvor keine Änderungen beantragt hat.

46

e) Danach hat das FG die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen, da bereits eine Änderungssperre eingetreten war, bevor der Kläger eine Korrektur der Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 beantragte.

47

aa) Die AB-GbR hat mit Schreiben vom 29.07.2015 beantragt, die Sonderbetriebsausgaben des Klägers zu berücksichtigen und die Gewinnfeststellungsbescheide 2010 und 2011 entsprechend zu ändern. Zu diesem Zeitpunkt war jedoch die Änderungssperre des § 173 Abs. 2 Satz 2 AO schon eingetreten, da dem Steuerberater der AB-GbR bereits mit Schreiben vom 19.05.2015 mitgeteilt worden war, dass die bei der AB-GbR durchgeführte Außenprüfung zu keiner Änderung der Besteuerungsgrundlagen geführt habe.

48

bb) Die Mitteilung vom 19.05.2015 ist wirksam und für das Besteuerungsverfahren zu berücksichtigen. Entgegen der Auffassung des Klägers kommt es nicht darauf an, ob seine nachfolgenden Schreiben als Einspruch zu behandeln sind und ob das vorliegende Verfahren bis zur bestands- beziehungsweise rechtskräftigen Entscheidung über einen solchen Einspruch auszusetzen ist. Denn bei der Mitteilung handelt es sich, wie dargelegt, nicht um einen Verwaltungs-, sondern um einen Realakt, gegen den ein Einspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht statthaft ist.

49

cc) Die eingetretene Änderungssperre führt auch im Streitfall nicht zu einer Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes oder einer Verletzung von Vertrauensschutzprinzipien.

50

Der Kläger hätte gegen die Gewinnfeststellungsbescheide für 2010 vom 03.02.2012 sowie für 2011 vom 26.09.2012, in denen die streitigen Sonderbetriebsausgaben nicht berücksichtigt waren, Einspruch einlegen können. Zudem hätte er einen auf entsprechende Änderung gerichteten Antrag jedenfalls noch während der Außenprüfung stellen können. Von dieser Möglichkeit hat er jedoch keinen Gebrauch gemacht. Ohne Erfolg beruft sich der Kläger darauf, dass er selbst während der Außenprüfung noch keinen Anlass gehabt habe, die Berücksichtigung der streitigen Aufwendungen bei der AB-GbR zu beantragen, da sie zu diesem Zeitpunkt noch als Betriebsausgaben seiner Tätigkeit als Einzelunternehmer im Rahmen seiner Einkommensteuerveranlagung berücksichtigt gewesen seien. Die Frage, ob die Aufwendungen als Sonderbetriebsausgaben des Klägers bei Veranlagung der AB-GbR oder als Betriebsausgaben bei seiner Veranlagung zur Einkommensteuer zu berücksichtigen waren, war zwischen den Beteiligten von Anfang an streitig. Die Einkommensteuerbescheide, in denen die Aufwendungen zunächst berücksichtigt wurden, waren deshalb unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen. Parallel zur Außenprüfung bei der AB-GbR wurde auch beim Kläger eine Außenprüfung durchgeführt; beide hatten unter anderem die Frage zum Gegenstand, in welchem Verfahren die streitigen Aufwendungen zu berücksichtigen seien. Bei dieser Sachlage musste der Kläger damit rechnen, dass das FA die Aufwendungen als Sonderbetriebsausgaben bei der AB-GbR beurteilen und die Einkommensteuerbescheide entsprechend ändern würde. Dementsprechend hätte es ihm oblegen, die Möglichkeit der Berücksichtigung der Aufwendungen bei der AB-GbR durch einen entsprechenden (vorsorglichen) Änderungsantrag noch während der Außenprüfung bei der AB-GbR offenzuhalten.

51

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

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BFH: Vermietung kein Vorstufenumsatz für die Seeschifffahrt (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG)

Der BFH nimmt u. a. Stellung zu der Frage, ob die Vermietung von Maschinen an einen Unternehmer, der damit steuerfrei Seeschiffe löscht, jedenfalls dann nicht nach § 4 Nr. 2, § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG steuerfrei ist, wenn mit den Maschinen auch andere Arbeiten ausgeführt werden können (Az. V R 12/23).

BFH, Urteil V R 12/23 vom 19.12.2024

Leitsatz

Sonstige Leistungen, die für den unmittelbaren Bedarf der in § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG bezeichneten Wasserfahrzeuge bestimmt sind, sind bei richtlinienkonformer Auslegung entsprechend Art. 148 Buchst. d MwStSystRL grundsätzlich nur dann steuerfrei, wenn der Unternehmer seine Leistung an den Schiffsbetreiber erbringt, während eine sonstige Leistung, die der Unternehmer auf einer dieser Leistung vorausgehenden Handelsstufe erbringt, nur dann steuerfrei ist, wenn die Bestimmung der ‑ auf der Vorstufe erbrachten ‑ sonstigen Leistung für den vorstehenden Bedarf ohne Einführung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen als sicher gelten kann.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 02.02.2023 – 5 K 168/19 wird als unbegründet zurückgewiesen. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Gründe

I.

1

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Alleinerbin des während des finanzgerichtlichen Verfahrens verstorbenen M, der im Jahr 2011 (Streitjahr) alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Beigeladenen, einer GmbH, war, an die er ein Grundstück nebst Fuhr- und Gerätepark verpachtet hatte.

2

Die Beigeladene verfügte über mehrere betriebsbereit auf dem Hafengelände des Seehafens S abgestellte Trimmraupen, die sie im Streitjahr der X-KG, einem Hafenumschlagsunternehmen, nach vorheriger telefonischer Anforderung mietweise überließ. Die X-KG verwendete die von Leiharbeitnehmern gelenkten Trimmraupen weit überwiegend zum Löschen von Seeschiffen, die mit landwirtschaftlichen Stückgütern beladen den Seehafen S anliefen, sowie vereinzelt für Arbeiten in Lagerhallen und beim Entladen von Lastkraftwagen. Nach dem jeweiligen Löschvorgang übermittelte die X-KG der Beigeladenen den Namen des gelöschten Seeschiffs und die für das Löschen in Anspruch genommenen Betriebsstunden der Trimmraupen. Auf dieser Grundlage erteilte die Beigeladene der X-KG für die mietweise Überlassung der Trimmraupen Rechnungen, die unter Bezug auf die Steuerfreiheit von Umsätzen für die Seeschifffahrt keine Umsatzsteuer auswiesen.

3

In der Umsatzsteuer-Jahreserklärung für das Streitjahr erklärte M unter Annahme des Bestehens einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft diese Umsätze der Beigeladenen als steuerfrei. Demgegenüber gelangte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) im Rahmen einer bei M im Februar 2016 begonnenen, die Jahre 2012 bis 2014 betreffenden Außenprüfung zu der Einschätzung, dass die Vermietungen der Trimmraupen nicht als Umsätze für die Seeschifffahrt steuerfrei seien, da sie nicht unmittelbar an den Betreiber eines Seeschiffs bewirkt worden seien. Daraufhin erweiterte das FA mit Bescheid vom 20.07.2016 (Erweiterungsanordnung) die Prüfung auf das Streitjahr. Gegen die Erweiterungsanordnung legte M Einspruch ein und beantragte zugleich deren Aussetzung der Vollziehung. Das FA wies diesen Einspruch im Oktober 2016 zurück, ohne zuvor über den Aussetzungsantrag entschieden zu haben. Die gegen die Erweiterungsanordnung erhobene Klage nahm M im April 2018 zurück, woraufhin er sich zwei Tage später mit der Prüferin über die für das Streitjahr vorzulegenden Unterlagen verständigte. Dem entsprechend informierte er die Prüferin im Mai 2018 über den Umfang der für das Streitjahr bisher als steuerfrei angesehenen Vermietungen, welche die Prüferin im Betriebsprüfungsbericht vom Juni 2018 als steuerpflichtig ansah.

4

In Umsetzung der Prüfungsfeststellungen erließ das FA am 27.06.2018 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr, wobei es als Bemessungsgrundlage der als steuerpflichtig angesehenen Vermietungsumsätze die gesamten Rechnungsbeträge zugrunde legte. Während des sich an den erfolglosen Einspruch anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens setzte das FA mit Änderungsbescheid vom 15.03.2022 die Umsatzsteuer für das Streitjahr herab, da es nunmehr die Entgelte für die in Rede stehenden Vermietungen als Bruttobeträge betrachtete.

5

Das Finanzgericht (FG) wies mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2023, 1028 veröffentlichten Urteil die Klage ab. Die Vermietung der Trimmraupen, für die M als Organträger der Beigeladenen die Steuer schulde, sei nicht nach § 4 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) steuerfrei. Die für die Steuerfreiheit geltenden Voraussetzungen seien bei diesen nur mittelbar an einen Unternehmer der Seeschifffahrt erbrachten Leistungen nicht erfüllt; insoweit fehle es an der Nämlichkeit zwischen den Vermietungsleistungen der Beigeladenen und den unmittelbar gegenüber einem Unternehmer der Seeschifffahrt erbrachten Löschleistungen der X-KG. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) habe die mittelbare Erbringung einer Löschleistung nur für die Fälle als steuerfrei anerkannt, in denen sicher gewesen sei, dass diese Leistung letztlich einem Unternehmer der Seeschifffahrt zugutegekommen sei. Davon sei im Streitfall jedoch nicht auszugehen. Die Änderung der Steuerfestsetzung sei zulässig, da die Festsetzungsfrist durch die im Februar 2016 begonnene Außenprüfung, die auch das Streitjahr erfasst habe, gehemmt worden sei.

6

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das FG habe –entgegen der EuGH-Rechtsprechung und der Finanzverwaltung– zu Unrecht die Steuerfreiheit der Vermietungsleistung von der Nämlichkeit mit dem nachfolgenden, unstreitig steuerfreien Löschumsatz abhängig gemacht, obwohl es ausreiche, dass die Vermietung eine notwendige Voraussetzung für den nachfolgenden Umsatz der X-KG gewesen sei oder sie wirtschaftlich, das heißt ihrem Wesen nach, in der Entladeleistung aufgehe. Fordere man die Nämlichkeit, könne der Zweck der Steuerbefreiung –die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit inländischer Unternehmer, die Leistungen für die Seeschifffahrt erbringen– nicht erreicht werden, da diese Unternehmer keine steuerfreien Vorleistungen einkaufen könnten. Auch wenn die –mit steuerbegünstigtem Dieselkraftstoff („Hafendiesel“) und damit zulässigerweise nur auf dem Seehafengelände einsetzbaren-Trimmraupen vereinzelt anderweitig verwendet worden seien, habe im jeweiligen Zeitpunkt der Vereinbarung der konkreten Vermietung, das heißt der jeweiligen Teilleistung, festgestanden, dass sie zum Löschen eines Seeschiffs eingesetzt werden würden, weshalb Überwachungs- und Kontrollmechanismen überflüssig gewesen seien.

7

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und den Umsatzsteuer-Jahresbescheid 2011 vom 15.03.2022 dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer um … € herabgesetzt wird.

8

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

9

Das FG habe die Steuerbefreiung der Vermietungsleistungen nicht wegen der fehlenden Nämlichkeit mit dem nachfolgenden Umsatz, sondern aufgrund der anderweitigen Einsatzmöglichkeit der Trimmraupen versagt.

10

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie trägt erläuternd vor, die Trimmraupen seien im Rahmen von seltenen Einzelaufträgen dazu genutzt worden, bereits von Seeschiffen gelöschte Waren in im Seehafen befindlichen Lagerhallen zusammenzuschieben, um Lagerkapazitäten zu erhöhen. Im Übrigen seien sie aber fast ausschließlich beim Be- und Entladen von Seeschiffen eingesetzt worden, was sie, die Beigeladene, in den der Klägerin erteilten Rechnungen unterschieden habe.

II.

11

Die Revision der Klägerin ist nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unbegründet und daher zurückzuweisen. Das FG hat die Steuerfreiheit der Vermietung der Trimmraupen im Ergebnis zu Recht verneint.

12

1. Steuerfrei sind gemäß § 4 Nr. 2 UStG insbesondere „Umsätze für die Seeschifffahrt“ im Sinne von § 8 Abs. 1 UStG. Hierzu gehören Lieferungen, Umbauten, Instandsetzungen, Wartungen, Vercharterungen und Vermietungen von –nach zolltariflichen Kriterien zu bestimmenden– Wasserfahrzeugen für die gewerbliche Seeschifffahrt (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG) sowie Lieferungen, Instandsetzungen, Wartungen und Vermietungen von Gegenständen, die zur Ausrüstung dieser Wasserfahrzeuge bestimmt sind (§ 8 Abs. 1 Nr. 2 UStG), und andere sonstige Leistungen, die für den unmittelbaren Bedarf dieser Wasserfahrzeuge, einschließlich ihrer Ausrüstungsgegenstände und ihrer Ladungen, bestimmt sind (§ 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG).

13

Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 148 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach befreien die Mitgliedstaaten –unter den allgemeinen Voraussetzungen von Art. 131 MwStSystRL– folgende Umsätze von der Steuer:

„a) die Lieferungen von Gegenständen zur Versorgung von Schiffen, die auf hoher See (…) für gewerbliche Zwecke (…) eingesetzt sind (…);

(…)

c) Lieferung, Umbau, Reparatur, Wartung, Vercharterung und Vermietung der unter Buchstabe a genannten Schiffe, sowie Lieferung, Vermietung, Reparatur und Wartung von Gegenständen, die in diese Schiffe eingebaut sind (…), oder die ihrem Betrieb dienen;

d) Dienstleistungen, die nicht unter Buchstabe c fallen und die unmittelbar für den Bedarf der unter Buchstabe a genannten Schiffe und ihrer Ladung erbracht werden; (…)“

14

Die von dieser Bestimmung verwendeten Begriffe sind autonom unionsrechtlich und dabei als einer Ausnahmebestimmung zugehörig eng auszulegen, wobei die Regel einer engen Auslegung der Steuerfreiheit aber nicht deren praktische Wirkung nehmen darf (EuGH-Urteil A vom 19.07.2012 – C-33/11, EU:C:2012:482, Rz 47 und 49). Zudem ist bei der Auslegung dieser Bestimmung die EuGH-Rechtsprechung zur inhaltsgleichen Vorgängerregelung in Art. 15 Nr. 4 Buchst. a, Nr. 5 und Nr. 8 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (Richtlinie 77/388/EWG) zu berücksichtigen (vgl. EuGH-Urteil Fast Bunkering Klaipėda vom 03.09.2015 – C-526/13, EU:C:2015:536, Rz 24 und 25 zu Art. 15 Nr. 4 der Richtlinie 77/388/EWG und zu Art. 148 Buchst. a MwStSystRL).

15

2. Sonstige Leistungen, die für den unmittelbaren Bedarf der in § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG bezeichneten Wasserfahrzeuge bestimmt sind, sind bei richtlinienkonformer Auslegung entsprechend Art. 148 Buchst. d MwStSystRL grundsätzlich nur dann steuerfrei, wenn der Unternehmer seine Leistung an den Schiffsbetreiber erbringt, während eine sonstige Leistung, die der Unternehmer auf einer dieser Leistung vorausgehenden Handelsstufe erbringt, nur dann steuerfrei ist, wenn die Bestimmung der –auf der Vorstufe erbrachten– sonstigen Leistung für den vorstehenden Bedarf als sicher gelten kann, ohne dass die Einführung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen erforderlich ist.

16

a) Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt die unter den weiteren Voraussetzungen von Art. 148 Buchst. a MwStSystRL (zuvor Art. 15 Nr. 4 der Richtlinie 77/388/EWG) steuerfreie Lieferung zur Versorgung von Schiffen „nur für Lieferungen von Gegenständen an einen Betreiber von Schiffen (…), der diese Gegenstände zur Versorgung der Schiffe verwendet, und kann sich deshalb nicht auf Lieferungen dieser Gegenstände erstrecken, die auf einer vorhergehenden Handelsstufe erfolgen“, da die „Erstreckung der Steuerbefreiung auf die der endgültigen Lieferung der Gegenstände an den Betreiber der Schiffe vorausgehenden Handelsstufen (…) von den Mitgliedstaaten verlangen [würde], daß sie Kontroll- und Überwachungsmechanismen einführten, um sich der endgültigen Bestimmung der unter Steuerbefreiung gelieferten Gegenstände zu vergewissern“ (EuGH-Urteile Velker International Oil Company vom 26.06.1990 – C-185/89, EU:C:1990:262, Rz 22 und 24; Elmeka vom 14.09.2006 – C-181/04 bis C-183/04, EU:C:2006:563, Rz 22 und 23; Fast Bunkering Klaipėda vom 03.09.2015 – C-526/13, EU:C:2015:536, Rz 27 bis 29). Lieferungen an Wirtschaftsteilnehmer, die nicht zu den Schiffsbetreibern gehören, sind daher selbst dann nicht steuerfrei, wenn als Zielsetzung der Lieferung die ausschließliche Verwendung durch den Schiffsbetreiber bekannt und ordnungsgemäß belegt ist und der Steuerbehörde im Einklang mit nationalen Rechtsvorschriften entsprechende Nachweise vorgelegt werden (vgl. EuGH-Urteil Fast Bunkering Klaipėda vom 03.09.2015 – C-526/13, EU:C:2015:536, Rz 44). Damit lehnt der EuGH eine Erstreckung der Steuerbefreiung auf vorhergehende Handelsstufen ab, wenn dies die Einführung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen erfordert, um sich der endgültigen Bestimmung eines Gegenstandes –der Lieferung an den Schiffsbetreiber– zu vergewissern, da derartige Mechanismen Zwänge schaffen würden, die mit einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen unvereinbar wären (EuGH-Urteil A vom 04.05.2017 – C-33/16, EU:C:2017:339, Rz 32). Dasselbe gilt für Dienstleistungen (EuGH-Urteile Elmeka vom 14.09.2006 – C-181/04 bis C-183/04, EU:C:2006:563, Rz 24 und A vom 04.05.2017 – C-33/16, EU:C:2017:339, Rz 27 ff.).

17

b) Die Steuerfreiheit einer auf einer vorhergehenden Handelsstufe erbrachten Leistung sieht der EuGH aber dann als möglich an, wenn „die Bestimmung einer Dienstleistung [für den unmittelbaren Bedarf der Seeschiffe und ihrer Ladungen] deren Wesen nach von ihrer Vereinbarung an als sicher gelten kann“, da in „solchen Situationen (…) die korrekte und einfache Anwendung der in Art. 148 Buchst. d der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbefreiung gewährleistet [ist], ohne dass die Einführung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen erforderlich wäre“. Erforderlich ist, dass „die Bestimmung, zu der diese Dienstleistungen verwendet werden, als gewiss gelten [kann], sobald die Modalitäten ihrer Erbringung vereinbart sind“ (EuGH-Urteil A vom 04.05.2017 – C-33/16, EU:C:2017:339, Rz 33 und 34). Insoweit nimmt der EuGH keine Beschränkung der Steuerfreiheit „auf die letzte Stufe der Handelskette der Be- und Entladedienstleistungen“ an (vgl. EuGH-Urteil A vom 04.05.2017 – C-33/16, EU:C:2017:339, Rz 37). Somit kann bei mehreren Leistungen, die –wie in den den EuGH-Entscheidungen zugrunde liegenden Fallkonstellationen– unverändert und damit identisch in einer Leistungskette erbracht werden, davon ausgegangen werden, dass bereits bei der auf einer Vorstufe erbrachten Leistung deren Bestimmung für den unmittelbaren Bedarf der Seeschiffe und ihrer Ladungen sicher ist.

18

c) Möglich ist eine Steuerfreiheit der auf einer vorausgehenden Handelsstufe erbrachten Leistung zudem auch dann, wenn –wie bei der Lieferung eines Luftfahrzeugs an einen Wirtschaftsteilnehmer, das dieser ausschließlich zur Verwendung durch eine hauptsächlich im entgeltlichen internationalen Verkehr tätige Gesellschaft bestimmt hatte– bereits aufgrund der für derartige Luftfahrzeuge geltenden Registrierungs- und Zulassungsverfahren die endgültige Verwendung sichergestellt ist (EuGH-Urteil A vom 19.07.2012 – C-33/11, EU:C:2012:482, Rz 55 und 56 zu Art. 15 Nr. 6 der Richtlinie 77/388/EWG).

19

3. Danach hat das FG im Ergebnis zutreffend die Steuerfreiheit gemäß § 4 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG im Hinblick auf die Vermietung der Trimmraupen durch die Beigeladene an die X-KG, die nicht Betreiberin von Seeschiffen war, sondern die die angemieteten Trimmraupen zum Löschen der Ladung von Seeschiffen verwendete und damit sonstige Leistungen an Schiffsbetreiber erbrachte, verneint.

20

a) Die Bestimmung der Verwendung der Trimmraupen für den unmittelbaren Bedarf von Wasserfahrzeugen einschließlich ihrer Ladungen ist entsprechend den vorstehenden Bedingungen (s. oben II.2.b) nicht als sicher anzusehen. Dies ergibt sich bereits aus der fehlenden Identität der von der Beigeladenen und der von der X-KG erbrachten Leistung. Unabhängig hiervon hätte die Prüfung der Bestimmung für den unmittelbaren Bedarf von Wasserfahrzeugen einschließlich ihrer Ladungen zudem die Einführung von Kontroll- und Überwachungsmechanismen erfordert, da vermietete Gegenstände für beliebige Zwecke verwendet werden können und selbst bei einer Vermietung nur für einen bestimmten Zweck die Zweckeinhaltung zu kontrollieren und zu überwachen ist. Demgemäß spricht gegen die Steuerfreiheit zum einen, dass nach den –nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und den Senat damit nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden– Feststellungen des FG die X-KG die Trimmraupen im Streitjahr tatsächlich auch für nicht steuerbegünstigte Arbeiten in Lagerhallen und beim Entladen von Lastkraftwagen einsetzte (und entsprechend als steuerpflichtige Leistung behandelte). Zum anderen besteht objektiv die Möglichkeit, dass auch in weiteren Fällen eine nicht steuerbegünstigte Verwendung stattgefunden haben könnte. Dies kann nur mit Hilfe gesonderter Kontroll- und Überwachungsmechanismen ausgeschlossen werden. Dass die Beteiligten übereinstimmend davon ausgehen, dass es im konkreten Fall aufgrund der tatsächlich gewährleisteten Kontrolle zu keiner unberechtigten Inanspruchnahme gekommen ist, ist im Hinblick darauf, dass bereits das –abstrakte-Erfordernis von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen der Anwendung der Steuerfreiheit entgegensteht, unbeachtlich. Somit kann es bei Abschluss eines Vertrags über die Vermietung einer Maschine an einen Hafenumschlagsunternehmer, die objektiv sowohl für steuerfreie als auch für steuerpflichtige Leistungen verwendet werden kann, trotz einer von den Vertragsparteien getroffenen Zweckbestimmung, dass die Maschine beim Löschen eines Seeschiffs eingesetzt werden soll, aufgrund des Wesens der Vermietungsdienstleistung als bloße Nutzungsüberlassung nicht als sicher gelten, dass die Maschine nur für Umsätze verwendet wird, die nach § 8 Abs. 1 UStG steuerfrei sind. Es reicht daher –entgegen der Ansicht der Klägerin– für die Steuerfreiheit eines Umsatzes auf vorausgehenden Handelsstufen weder aus, dass dieser eine notwendige Voraussetzung für die Ausführung des nachfolgenden –steuerfreien-Umsatzes ist, noch genügt es, dass die Kosten des Vorstufenumsatzes auf den Verfügungsberechtigten der Ladung abgewälzt werden können.

21

b) Im Streitfall sind auch keine sich aus anderen Regelungszusammenhängen ergebenden Nachweise für die tatsächliche Verwendung der Trimmraupen –vergleichbar einem Registrierungs- und Zulassungsverfahren für Luftfahrzeuge (s. oben II.2.c)– erkennbar, welche eine Kontrolle der Einhaltung der vereinbarten Bestimmung hätten entbehrlich machen können.

22

c) Nicht zu entscheiden ist daher, ob die Anwendung von § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG auch daran scheitert, dass § 8 Abs. 1 Nr. 2 UStG nur die Vermietung von Gegenständen, die zur Ausrüstung von Wasserfahrzeugen bestimmt sind, erfasst, und dies einer Anwendung von § 8 Abs. 1 Nr. 5 UStG auf die Vermietung anderer Gegenstände –wie die hier vorliegenden Trimmraupen– entgegenstehen könnte.

23

4. Das Urteil des FG erweist sich auch nicht in anderer Hinsicht als rechtsfehlerhaft.

24

a) Auf der Grundlage der für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG ist es revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das FG das Bestehen einer Organschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zwischen der Beigeladenen und M bejaht hat. Insbesondere ist angesichts der Vermietung eines Grundstücks und eines Fuhr- und Geräteparks an die Beigeladene von der wirtschaftlichen Verflechtung durch mehr als nur unerhebliche Beziehungen zwischen den Unternehmensbereichen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 11.05.2023 –  V R 28/20, BFHE 281, 178, BStBl II 2023, 992, Rz 18) der Beigeladenen und M auszugehen.

25

b) Der Änderung der einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehenden Steueranmeldung (§ 168 Satz 1, § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung –AO–) durch den Änderungsbescheid vom 27.06.2018 stand der Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht entgegen, da der Ablauf der Festsetzungsfrist für das Streitjahr nach § 171 Abs. 4 AO gehemmt war.

26

aa) Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit einer Außenprüfung begonnen oder wird deren Beginn auf Antrag des Steuerpflichtigen hinausgeschoben, so läuft nach § 171 Abs. 4 Satz 1 AO die Festsetzungsfrist für die Steuern, auf die sich die Außenprüfung erstreckt oder im Fall der Hinausschiebung der Außenprüfung erstrecken sollte, unter anderem nicht ab, bevor die aufgrund der Außenprüfung zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind. Dies gilt gemäß § 171 Abs. 4 Satz 2 AO nicht, wenn eine Außenprüfung unmittelbar nach ihrem Beginn für die Dauer von mehr als sechs Monaten aus Gründen unterbrochen wird, die die Finanzbehörde zu vertreten hat.

27

bb) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein Antrag auf Hinausschieben des Beginns der Außenprüfung auch darin zu sehen, dass der Steuerpflichtige –wie im Streitfall– eine ihm gegenüber ergangene –rechtmäßige– Prüfungsanordnung anficht und zugleich beantragt, deren Vollziehung auszusetzen. Wird ein Antrag auf Aufschub des Prüfungsbeginns ohne zeitliche Vorgaben gestellt, endet die Festsetzungsfrist danach zwei Jahre nach Wegfall des geltend gemachten Hinderungsgrundes für die Durchführung der Prüfung. Dies gilt auch, wenn –wie vorliegend– ein Rechtsbehelfsverfahren betrieben wird, das die Prüfungsanordnung oder Prüfungsmaßnahmen betrifft, die mit der gegen den Steuerpflichtigen gerichteten Außenprüfung in hinreichendem sachlichen Zusammenhang stehen (BFH-Urteil vom 12.12.2017 –  VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606, Rz 34 und 35). Danach ist im Streitfall keine Festsetzungsverjährung eingetreten, da nach Erlass der Prüfungsanordnung im Juli 2016 tatsächliche Prüfungshandlungen für das Streitjahr erfolgten, die innerhalb der Zweijahresfrist zum Betriebsprüfungsbericht vom Juni 2018 führten.

28

5. Ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist nicht veranlasst (vgl. zu den Voraussetzungen EuGH-Urteile CILFIT vom 06.10.1982 – 283/81, EU:C:1982:335, Rz 21 und Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi vom 06.10.2021 – C-561/19, EU:C:2021:799, Rz 66). Für den Senat bestehen keine Zweifel in Bezug auf die Auslegung von Art. 148 MwStSystRL.

29

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 und 3 FGO.

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BFH: Persönliches Budget und Umsatzsteuerfreiheit

Der BFH hatte sich mit der Steuerbefreiung von Pflegeleistungen nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG 2013 zu befassen (Az. V R 1/22).

BFH, Urteil V R 1/22 vom 19.12.2024

Leitsatz

Betreuungs- oder Pflegeleistungen können gemäß § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung (nunmehr § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. n UStG) auch aufgrund einer mittelbaren Kostentragung steuerfrei sein, wenn sie zwar aus dem Persönlichen Budget bestritten werden, dessen Bewilligung aber in Bezug auf die Person des Leistungserbringers eine explizite Entscheidung des Kostenträgers im Sinne einer Anerkennung zur Leistungserbringung erkennen lässt (Abgrenzung zu Abschn. 4.16.3. Abs. 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses).

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 20.10.2021 – 1 K 736/19 aufgehoben.

Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Gründe

I.

1

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine KG, bot in den Jahren 2013 bis 2016 (Streitjahre) in zwei Wohngebäuden für deren Bewohner, die aufgrund von psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen oder geistiger Behinderung in ihrer Fähigkeit, ihren Alltag zu bestreiten, erheblich eingeschränkt waren, eine als Komplettbetreuung bezeichnete Tagesbeschäftigung an. In deren Rahmen erbrachte sie ausschließlich auf Grundlage von Verträgen, die sie mit den als Klienten bezeichneten Bewohnern abgeschlossen hatte, ambulante pädagogische Fach- und Assistenzleistungen.

2

Hierfür beantragten die Bewohner die Ausführung von Leistungen zur Teilhabe in Form eines Persönlichen Budgets im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes vom 21.03.2005 (BGBl I 2005, 818) –SGB IX a.F.–. Der hierfür zuständige Leistungsträger, ein Landeswohlfahrtsverband (LWV), schloss mit den Bewohnern Zielvereinbarungen ab, die jeweils unter Angabe des Unterstützungsbedarfs Berechnungen für die Höhe und die Zusammensetzung des Persönlichen Budgets enthielten. Bei Nichteinhaltung der vereinbarten Ziele musste das Geld von den Bewohnern an den LWV zurückgezahlt werden. Die Entgelte für die von der Klägerin erbrachten Leistungen, deren Höhe sich nach der gegenüber den Bewohnern erfolgten Bewilligung durch den LWV richtete, stellte die Klägerin den Bewohnern unabhängig von der tatsächlichen Erreichung der in den mit dem LWV geschlossenen Vereinbarungen genannten Ziele in Rechnung.

3

In ihren Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Streitjahre gab die Klägerin jeweils ausschließlich steuerfreie Umsätze an. Demgegenüber setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) mit Bescheiden aus dem Jahr 2018 Umsatzsteuer fest, wobei er jeweils den allgemeinen Steuersatz auf die Umsätze der Klägerin anwandte.

4

Den Antrag der Klägerin, ihre Umsätze als steuerfrei zu behandeln und die Umsatzsteuerfestsetzungen insbesondere der Streitjahre entsprechend zu ändern, lehnte das FA ab. Mit ihrem hiergegen gerichteten Einspruch machte die Klägerin geltend, dass sich die Steuerfreiheit daraus ergebe, dass sie Leistungen zur Betreuung und Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Menschen in Form des Persönlichen Budgets erbringe, welche das bisherige Dreiecksverhältnis von Leistungsträger, Leistungsempfänger und Leistungserbringer abgelöst hätten. Die Leistungsempfänger träten selbst als Auftraggeber auf und kauften die Leistungen mit Mitteln des LWV ein.

5

Mit in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 365 veröffentlichtem Urteil wies das Finanzgericht (FG) die nach erfolglosem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren erhobene Klage ab. Die Klägerin habe zwar eng mit der Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen verbundene Leistungen erbracht. Die Voraussetzungen der Steuerbefreiung von Betreuungs- und Pflegeleistungen seien jedoch nicht erfüllt, da die vom Gesetzgeber vorgesehene –und unionsrechtlich unbedenkliche– Mindestvergütungsquote von 25 % (bis 30.06.2013: mindestens 40 %) nicht erreicht werde. Leistungen aus dem Persönlichen Budget blieben insoweit unberücksichtigt. Aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich, dass die Absenkung der Mindestvergütungsquote von 40 % auf 25 % im Hinblick auf die weitere Verbreitung der Anwendung des Persönlichen Budgets erfolgt sei. Weiter ergebe sich eine Steuerbefreiung auch nicht aus einer Vergleichbarkeit mit Leistungen und Abrechnungen von Subunternehmern. Es fehle im Streitfall an der erforderlichen mittelbaren Kostentragung. Denn die Klägerin rechne nicht als Subunternehmerin mit einem Leistungserbringer ab, sondern erhalte die Gegenleistung ausschließlich aus dem Persönlichen Budget ihrer Kunden. Zudem müsse es sich um Leistungen handeln, die „vergütet“ worden seien, was voraussetze, dass der zuständige Träger die an einen anderen Unternehmer erbrachten Leistungen kenne und die Kosten hierfür –wenn auch mittelbar– tragen wolle. Im Streitfall hätten jedoch die Bewohner selbst die Kosten getragen. Der Entgeltanspruch der Klägerin habe unabhängig davon bestanden, ob der LWV von den Bewohnern einen Teil des ausgezahlten Betrags zurückgefordert habe, weil einzelne Zielvorgaben nicht eingehalten worden seien. Im Übrigen bestehe keine Ungleichbehandlung im Vergleich zu anderen Anbietern, wie beispielsweise der Diakonie. Die von der Klägerin erbrachten Leistungen seien letztlich im unternehmerischen Wettbewerb erfolgt, nämlich durch eine privatrechtliche Einrichtung mit Gewinnstreben. Der Klägerin hätte es freigestanden, ein anderes Konzept zu wählen und damit ihre Leistungen im Ergebnis steuerfrei zu erbringen, so dass es letztlich nicht zu Wettbewerbsverzerrungen komme.

6

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Bei den von ihr, der Klägerin, im Rahmen des Persönlichen Budgets gegenüber den Bewohnern erbrachten Dienstleistungen handele es sich um eng mit der Sozialfürsorge verbundene Dienstleistungen im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Es sei nicht auf den Zahlungsweg der Vergütung, sondern allein auf die Art der erbrachten Leistungen abzustellen. Diese seien unabhängig davon, ob sie direkt vom LWV oder im Rahmen des Persönlichen Budgets vergütet würden, identisch. Die Kostenbegrenzung des Persönlichen Budgets auf die Kosten aller bisher individuell festgestellten Leistungen, die ohne das Persönliche Budget zu erbringen seien, führe dazu, dass sie, die Klägerin, unabhängig davon, ob die Bewohner das Persönliche Budget in Anspruch nähmen, die gleiche Bruttovergütung für ihre Leistungen erhalte. Bei einer Umsatzsteuerpflicht könne sie, die Klägerin, über Persönliche Budgets vergütete Leistungen nicht mehr kostendeckend erbringen und müsste die Bewohner dazu drängen, sich gegen eine Teilnahme am Persönlichen Budget zu entscheiden, was der Absicht des Gesetzgebers widerspreche.

7

Da es bei dem Persönlichen Budget zu keiner Leistungserhöhung durch den Leistungsträger kommen solle, würde die Auffassung des FG zu einer umsatzsteuerrechtlichen Ungleichbehandlung der im Rahmen des Persönlichen Budgets erbrachten Leistungen im Vergleich zu den direkt von den Leistungsträgern vergüteten Leistungen und damit zu einer nicht gewünschten Benachteiligung führen. Auch sei der LWV gewillt, die erbrachten Leistungen mittelbar zu tragen. Im Rahmen der Anerkennung der Klägerin durch den LWV würden regelmäßig die von der Klägerin an die Leistungsberechtigten gestellten Rechnungen geprüft, wobei es zu Kürzungen kommen könne. Auch müsse die Klägerin gegenüber dem LWV die pädagogische Befähigung ihrer Mitarbeiter nachweisen. Soweit der LWV bei einzelnen Leistungen die mittelbare Kostentragung verweigere, seien die möglichen Erlöse im Rahmen der Kleinunternehmerregelung steuerfrei.

8

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG, die Einspruchsentscheidung vom 12.04.2019 und den Ablehnungsbescheid vom 30.07.2018 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Umsatzsteuerbescheide 2013 bis 2016 –jeweils vom 22.06.2018– dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer jeweils auf Null € festgesetzt wird.

9

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

10

Es könne im Streitfall nicht von einer „nicht gewünschten“ Benachteiligung der Klägerin gegenüber vergleichbaren Leistungserbringern ausgegangen werden. Die Steuerbefreiung von Betreuungs- und Pflegeleistungen stelle nicht nur auf die Art der erbrachten Leistung, sondern auch auf die Mindestvergütungsquote ab. Ein konkreter Nachweis der Kostenerstattung sei durch die Klägerin nicht geführt worden. Anders als die Klägerin behaupte, liege weder eine formale Anerkennung als Leistungserbringerin vor noch habe die Kontrolle und Rückforderung von Teilen des Persönlichen Budgets durch den LWV Auswirkungen auf die Zahlungsansprüche der Klägerin gegen die Bewohner.

II.

11

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Entgegen dem Urteil des FG können Betreuungs- oder Pflegeleistungen auch aufgrund einer mittelbaren Kostentragung steuerfrei sein, wenn sie zwar aus dem Persönlichen Budget bestritten werden, dessen Bewilligung aber in Bezug auf die Person des Leistungserbringers eine explizite Entscheidung des Kostenträgers im Sinne einer Anerkennung zur Leistungserbringung erkennen lässt.

12

1. Nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l des Umsatzsteuergesetzes (UStG) in der zuletzt in den Streitjahren geltenden Fassung (nunmehr § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. n UStG) sind steuerfrei die mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen eng verbundenen Leistungen, die von Einrichtungen erbracht werden, bei denen im vorangegangenen Kalenderjahr die Betreuungs- oder Pflegekosten in mindestens 25 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden sind.

13

Unionsrechtlich beruht diese Vorschrift auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Danach befreien die Mitgliedstaaten „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“.

14

2. § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG entspricht –weitgehend– den unionsrechtlichen Erfordernissen.

15

a) Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL legt die Voraussetzungen und Modalitäten der Anerkennung als soziale Einrichtung nicht fest. Vielmehr ist es Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen die erforderliche Anerkennung gewährt werden kann (Urteile des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 28.06.2017 –  XI R 23/14, BFHE 258, 517, Rz 39; vom 13.06.2018 –  XI R 20/16, BFHE 262, 220, BStBl II 2023, 786, Rz 49; vgl. auch Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– Kügler vom 10.09.2002 – C-141/00, EU:C:2002:473, Rz 57 zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage –Richtlinie 77/388/EWG–). Die Mitgliedstaaten verfügen insoweit über ein Ermessen (vgl. BFH-Urteil vom 02.03.2011 –  XI R 47/07, BFHE 232, 568, BStBl II 2012, 699; EuGH-Urteile Kügler vom 10.09.2002 – C-141/00, EU:C:2002:473, Rz 54; Kingscrest Associates und Montecello vom 26.05.2005 – C-498/03, EU:C:2005:322, Rz 51; Kinderopvang Enschede vom 09.02.2006 – C-415/04, EU:C:2006:95, Rz 23 und Zimmermann vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 26, jeweils zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG).

16

b) § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG hält sich im Rahmen dieses Ermessens, wenn er die Steuerbefreiung davon abhängig macht, dass bei der betreffenden Einrichtung die Betreuungskosten in mindestens 25 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden sind (zur früheren 40 %-Grenze vgl. BFH-Urteil vom 13.06.2018 –  XI R 20/16, BFHE 262, 220, BStBl II 2023, 786, Rz 48; vgl. auch EuGH-Urteile L.u.P. vom 08.06.2006 – C-106/05, EU:C:2006:380, Rz 53 f. zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG; Zimmermann vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 36 und 37 zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG).

17

Der nationale Gesetzgeber hat allerdings bei der Ausgestaltung der Anerkennung einer Einrichtung im Sinne von § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens insoweit nicht beachtet, als er bezüglich der Einhaltung der Mindestvergütungsquote auf das vorangegangene Kalenderjahr abgestellt hat (vgl. BFH-Urteile vom 19.03.2013 –  XI R 47/07, BFHE 240, 439, BStBl II 2023, 765, Rz 36 ff. und vom 28.06.2017 – XI R 23/14, BFHE 258, 517, Rz 42; vgl. auch EuGH-Urteil Zimmermann vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 40 und 41).

18

3. Ob Betreuungs- oder Pflegekosten in bestimmten Fällen in der von § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG genannten Quote von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet werden, entscheidet sich nach Maßgabe sozialversicherungsrechtlicher Regelungen zur Kostentragung. Denn nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG muss es sich um Leistungen handeln, die „vergütet worden sind“. Dies setzt zumindest voraus, dass der zuständige Träger die erbrachten Leistungen kennt und die Kosten hierfür –wenn auch nur mittelbar– tragen will. Unionsrechtskonform erfordert dies, dass die Kostenübernahme auf einer expliziten Entscheidung des Kostenträgers –in Bezug auf die Person des Leistungserbringers– beruht (EuGH-Urteil Finanzamt D vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, Rz 51; ebenso BFH-Urteil vom 24.02.2021 –  XI R 30/20 (XI R 11/17), BFHE 272, 259, BStBl II 2023, 792, Rz 39 unter Aufgabe früherer BFH-Rechtsprechung), was als Anerkennung zur Leistungserbringung anzusehen ist.

19

4. Auf dieser Grundlage kann eine mittelbare Kostentragung aufgrund einer expliziten Entscheidung der in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG genannten Träger nicht nur dann vorliegen, wenn –wie in den bislang von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen– ein von diesen Trägern unmittelbar beauftragter Leistungserbringer seinerseits einen Subunternehmer beauftragt, sondern auch dann, wenn eine Beauftragung –dann über die Leistungsempfängerseite– durch die von dieser Vorschrift begünstigte Person vorliegt. Daher sind entgegen dem Urteil des FG auch aus dem Persönlichen Budget (§ 17 Abs. 1 Satz 1 SGB IX a.F., nunmehr § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) bestrittene Leistungen für die Bemessung der Mindestvergütungsquote des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG zu berücksichtigen, wenn eine solche explizite Entscheidung der in dieser Vorschrift genannten Träger vorliegt. Für den Fall, dass Abschn. 4.16.3. Abs. 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses dahingehend zu verstehen sein sollte, dass eine Vergütung der Betreuungs- oder Pflegeleistungen aus Geldern des Persönlichen Budgets als mittelbare Vergütung ausnahmslos und damit auch im Falle einer expliziten Entscheidung des Kostenträgers nicht in die Ermittlung der Mindestvergütungsquote einzubeziehen ist, schließt sich der erkennende Senat dem nicht an.

20

a) Nach dem für die Streitjahre maßgeblichen § 17 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F., dessen Regelungsgehalt dem nunmehr geltenden –und von den Beteiligten sowie dem FG in Bezug genommenen– § 29 Abs. 1 Satz 1 SGB IX entspricht, konnten Leistungen zur Teilhabe auf Antrag auch durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden, um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Bei der Ausführung des Persönlichen Budgets waren nach Maßgabe des individuell festgestellten Bedarfs die Rehabilitationsträger, die Pflegekassen und die Integrationsämter beteiligt (§ 17 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a.F.). Das Persönliche Budget wurde gemäß § 17 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. von den beteiligten Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht.

21

Budgetfähig waren –neben den Leistungen zur Teilhabe, die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB IX a.F. auch unter Inanspruchnahme von geeigneten, insbesondere auch freien und gemeinnützigen oder privaten Rehabilitationsdiensten und -einrichtungen ausgeführt werden durften– die erforderlichen Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe bezogen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden konnten (§ 17 Abs. 2 Satz 4 SGB IX a.F.). Enthielt das Persönliche Budget Leistungen mehrerer Leistungsträger, erließ der nach § 14 SGB IX a.F. zuständige der beteiligten Leistungsträger im Auftrag und im Namen der anderen beteiligten Leistungsträger den Verwaltungsakt und führte das weitere Verfahren durch (§ 17 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.F.).

22

Persönliche Budgets wurden in der Regel als Geldleistung ausgeführt, bei laufenden Leistungen monatlich (§ 17 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a.F.). Sie wurden nach § 17 Abs. 3 Satz 3 SGB IX a.F. so bemessen, dass der individuell festgestellte Bedarf gedeckt wurde und die erforderliche Beratung und Unterstützung erfolgen konnte. Dabei sollte die Höhe des Persönlichen Budgets die Kosten aller bisher individuell festgestellten, ohne das Persönliche Budget zu erbringenden Leistungen nicht überschreiten (§ 17 Abs. 3 Satz 4 SGB IX a.F.).

23

Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 der auf Grundlage des § 21a SGB IX a.F. erlassenen und in den Streitjahren geltenden Budgetverordnung vom 27.05.2004 (BGBl I 2004, 1055) –BudgetV–, der die nunmehr geltende Regelung des § 29 Abs. 4 SGB IX entspricht, wurde zwischen der den Antrag stellenden Person und dem nach § 17 Abs. 4 SGB IX a.F. zuständigen Leistungsträger eine Zielvereinbarung abgeschlossen. Diese enthielt zumindest Regelungen über die Ausrichtung der individuellen Förder- und Leistungsziele (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BudgetV), die Erforderlichkeit eines Nachweises für die Deckung des festgestellten individuellen Bedarfs (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BudgetV) sowie die Qualitätssicherung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 BudgetV).

24

b) Zwar kamen danach die Leistungsberechtigten, soweit sie mit im Rahmen des Persönlichen Budgets zur Verfügung gestellten Geldleistungen Betreuungs- und Pflegeleistungen in Anspruch nahmen, hierfür grundsätzlich aus eigenen Mitteln auf. Die Leistungsberechtigten konnten nach diesen Regelungen selbst entscheiden, welche Hilfen sie überhaupt sowie wann, wie und durch wen sie diese Hilfen in Anspruch nahmen (BTDrucks 15/1514, S. 72), da es sich bei dem Persönlichen Budget um eine eigenständige Pauschalleistung zur Abgeltung nur ihrer Art nach bestimmter Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe und anderer budgetfähiger Leistungen dem Grunde nach handelt (Urteil des Bundessozialgerichts –BSG– vom 11.05.2011 – B 5 R 54/10 R, BSGE 108, 158, Rz 33).

25

Gleichwohl schließt der Umstand, dass es im Rahmen des Persönlichen Budgets –jedenfalls sofern dieses wie im Regelfall als Geldleistung ausgeführt wird– im Gegensatz zum Sachleistungssystem keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen Leistungserbringern und Rehabilitationsträgern gibt (BSG-Urteil vom 11.05.2011 – B 5 R 54/10 R, BSGE 108, 158, Rz 29; vgl. auch Schneider in Hauck/Noftz, SGB IX, § 29 Rz 10), nicht von vornherein aus, dass von den Leistungsberechtigten in Anspruch genommene und von Dritten erbrachte Leistungen von den Rehabilitationsträgern vergütet werden. Denn führt der Rehabilitationsträger die Geldleistung in Form Persönlicher Budgets aus, damit der Leistungsberechtigte seinerseits zielgerichtet dem Träger bekannte und akzeptierte Leistungserbringer in Anspruch nehmen kann, wird im Ergebnis diese Leistungsinanspruchnahme von den Rehabilitationsträgern nicht nur wirtschaftlich getragen, sondern kann zudem auf einer expliziten Entscheidung des Kostenträgers in Bezug auf einen bestimmten Leistungserbringer beruhend anzusehen sein.

26

c) Gegen die sich auf dieser Grundlage ergebende Berücksichtigung des Persönlichen Budgets im Rahmen der Mindestvergütungsquote lässt sich nicht die Entstehungsgeschichte der nationalen Steuerbefreiung anführen.

27

Zwar wurde im Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) vom 27.11.2008 (BTDrucks 16/11108, S. 38 f.), auf dessen Vorschlag die Einführung von § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k UStG durch das Jahressteuergesetz 2009 vom 19.12.2008 (BGBl I 2008, 2794) zurückgeht, davon ausgegangen, dass in Bezug auf das Persönlichen Budget ein „Nachweis“, dass die Leistungen von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe vergütet wurden, nicht möglich sei. Dabei blieb aber die –erst später– von der Rechtsprechung anerkannte Möglichkeit einer mittelbaren Kostentragung (vgl. BFH-Urteil vom 18.08.2015 –  V R 13/14, BFHE 251, 282, BStBl II 2023, 769, Rz 21 und die weitere im BFH-Urteil vom 24.02.2021 –  XI R 30/20 (XI R 11/17), BFHE 272, 259, BStBl II 2023, 792, Rz 39 zitierte BFH-Rechtsprechung) außer Betracht.

28

d) Dass aus dem Persönlichen Budget bestrittene Leistungen für die Mindestvergütungsquote des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG nicht in jedem Fall, sondern nur bei Vorliegen einer expliziten Entscheidung der Leistungsträger beachtlich sind, führt im Übrigen entgegen der Auffassung der Klägerin nicht zu einer wesentlichen Benachteiligung der aus dem Persönlichen Budget Berechtigten. Denn erreicht der Unternehmer die Mindestvergütungsquote, sind –sofern die übrigen leistungsbezogenen Anforderungen erfüllt sind– alle von ihm erbrachten Betreuungs- oder Pflegeleistungen und damit auch solche, die ohne explizite Entscheidung des Leistungsträgers aus dem Persönlichen Budget bestritten werden, steuerfrei. Zudem ist zu beachten, dass die in § 17 Abs. 3 Satz 4 SGB IX a.F. für das Persönliche Budget vorgesehene Obergrenze als „Soll-Vorschrift“ ausgestaltet ist, so dass in besonders begründeten Ausnahmefällen diese Obergrenze auch überschritten werden kann (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 31.01.2012 – B 2 U 1/11 R, BSGE 110, 83, Rz 43, 44 und 52). Beides schließt die von der Klägerin befürchtete Gefahr „qualitativer oder quantitativer Leistungsreduzierungen“ wie auch einen Verstoß gegen das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13.12.2006 (BGBl II 2008, 1420) aus.

29

e) Dasselbe gilt für die für frühere Zeiträume geltende Fassung des § 4 Nr. 16 UStG und damit insbesondere für § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k UStG in der bis zum 30.06.2013 geltenden Fassung, da dieser ohne weitergehende Änderungen lediglich eine höhere Mindestvergütungsquote bestimmte.

30

5. Die Sache ist nicht spruchreif und daher an das FG zurückzuverweisen. Der Senat kann im Revisionsverfahren die vom FG –auf Grundlage seiner Rechtsauffassung– unterlassene tatsächliche Würdigung, ob die Übernahme der von der Klägerin den Bewohnern in Rechnung gestellten Kosten auf einer expliziten Entscheidung eines in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG genannten Trägers beruht, nicht nachholen.

31

a) Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat in Bezug auf eine mögliche Steuerfreiheit der von der Klägerin erbrachten Leistungen ergänzend auf Folgendes hin:

32

aa) Bei seiner Würdigung wird das FG insbesondere die Umstände zu berücksichtigen haben, die zum Abschluss der für die jeweilige Bewilligung des Persönlichen Budgets erforderlichen Zielvereinbarungen führten. Dem steht nicht entgegen, dass diese Zielvereinbarungen nur zwischen den Bewohnern und dem LWV abgeschlossen wurden und nichts daran änderten, dass die Bewohner in ihrer Entscheidung, ob und in welchem Umfang sie die Klägerin beauftragten, grundsätzlich frei waren, sowie dass eine im Verhältnis der Bewohner zu dem LWV entstandene Rückzahlungsverpflichtung den Vergütungsanspruch der Klägerin unberührt ließ. Da die Zielvereinbarungen nach den Feststellungen des FG Berechnungen der Höhe und Zusammensetzung des Persönlichen Budgets enthielten, ist nicht ausgeschlossen, dass der LWV davon ausging, dass die hierin genannten Leistungen nicht von einem beliebigen Unternehmer, sondern von der Klägerin als für die Leistungserbringung vorgesehene Unternehmerin erbracht werden sollten. Dies gilt umso mehr, sollte sich ergeben, dass –wie es die Klägerin in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat– die Belegung der Wohngebäude, deren Bewohner die Klägerin betreute, durch den oder in Absprache mit dem LWV erfolgte. In diesem Zusammenhang hat das FG aufzuklären, ob die Klägerin von den Bewohnern in deren Antrag auf Gewährung von Leistungen im Wege des Persönlichen Budgets ausdrücklich genannt wurde und ob die Behauptung der Klägerin, sie habe dem LWV die pädagogische Befähigung ihrer Mitarbeiter nachweisen müssen, zutrifft.

33

bb) Soweit eine Vergütung durch in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG genannte Träger zu bejahen sein und diese die erforderliche Mindestvergütungsquote erreichen sollte, wird das FG weiter zu prüfen haben, ob –und gegebenenfalls in welchem Umfang– es sich bei den von der Klägerin erbrachten Leistungen um solche im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG handelt, mithin, ob –und gegebenenfalls in welchem Umfang– es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, auf die sich die Anerkennung, der Vertrag oder die Vereinbarung nach Sozialrecht oder die Vergütung jeweils bezieht.

34

cc) Sollte demgegenüber eine Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. l UStG zu verneinen sein, ist der Frage nachzugehen, ob die an jugendliche Bewohner erbrachten Leistungen nach § 4 Nr. 23 UStG steuerfrei sind.

35

b) Im Übrigen ist zu prüfen, ob die Umsatzsteuer nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung nicht zu erheben ist.

36

aa) Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG wird die für Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geschuldete Umsatzsteuer von Unternehmern, die im Inland oder in den in § 1 Abs. 3 UStG bezeichneten Gebieten ansässig sind, nicht erhoben, wenn der in § 19 Abs. 1 Satz 2 UStG bezeichnete Umsatz zuzüglich der darauf entfallenden Steuer im vorangegangenen Kalenderjahr 17.500 € nicht überstiegen hat und im laufenden Kalenderjahr 50.000 € voraussichtlich nicht übersteigen wird. Umsatz im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG ist der nach vereinnahmten Entgelten bemessene Gesamtumsatz, gekürzt um die darin enthaltenen Umsätze von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (§ 19 Abs. 1 Satz 2 UStG).

37

Gesamtumsatz ist gemäß § 19 Abs. 3 Satz 1 UStG die Summe der vom Unternehmer ausgeführten steuerbaren Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG abzüglich der Umsätze, die nach § 4 Nr. 8 Buchst. i, Nr. 9 Buchst. b und Nr. 11 bis 28 UStG steuerfrei sind (§ 19 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 UStG), und der Umsätze, die nach § 4 Nr. 8 Buchst. a bis h, Nr. 9 Buchst. a und Nr. 10 UStG steuerfrei sind, wenn sie Hilfsumsätze sind (§ 19 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 UStG). Soweit der Unternehmer die Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 oder § 20 UStG), ist auch der Gesamtumsatz nach diesen Entgelten zu berechnen.

38

bb) Ob die –im Fall der Verneinung einer Steuerfreiheit– geschuldete Umsatzsteuer von der Klägerin, die in den Streitjahren im Bereich der ambulanten Hilfe für Menschen mit psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen oder geistiger Behinderung selbstständig tätig war und damit als Unternehmerin im Sinne von § 2 Abs. 1 UStG steuerbare Leistungen gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG im Rahmen ihres Unternehmens ausgeführt hat, nach § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG nicht erhoben wird, lässt sich mangels Feststellungen des FG zu den von der Klägerin im Jahr 2012 und in den Streitjahren vereinnahmten Entgelten bisher nicht beurteilen. So beschränkt sich das FG –als Teil des Sach- und Streitstands (vgl. § 105 Abs. 3 Satz 1 FGO)– auf die Wiedergabe der von der Klägerin erklärten (steuerfreien) Umsätze sowie auf die von dem FA den angegriffenen Festsetzungen zu Grunde gelegten Umsätze zum allgemeinen Steuersatz, ohne damit zugleich eigene tatsächliche Feststellungen im Sinne des § 118 Abs. 2 FGO zu verbinden. Dass sich die Angaben der Klägerin und des FA insoweit in Übereinstimmung bringen lassen, ist unbeachtlich (vgl. BFH-Urteil vom 05.10.1999 –  VII R 152/97, BFHE 191, 140, BStBl II 2000, 93, Rz 21). Für die Streitjahre 2013 und 2014 tritt hinzu, dass selbst auf der Grundlage der erklärten Umsätze (2013: [unter 17.500 €]; 2014: [über 17.500 €]; 2015: [über 50.000 €]; 2016: [über 17.500 €]) mangels Angaben zu den im Streitjahr 2012 vereinnahmten Entgelten und einer zu Beginn des Streitjahres 2013 anzustellenden Prognose (BFH-Urteil vom 11.07.2018 – XI R 36/17, BFH/NV 2019, 419, Rz 33; BFH-Beschluss vom 19.12.2014 – XI B 12/14, BFH/NV 2015, 534, Rz 32) bisher nicht abschließend über die Anwendung von § 19 Abs. 1 Satz 1 UStG entschieden werden kann.

39

6. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Quelle: Bundesfinanzhof

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Unternehmen versichern sich gegen Cyberattacken

Unternehmen in Deutschland wappnen sich häufig mit Cyberversicherungen gegen mögliche Schäden durch Cyberkriminalität. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Befragung des ZEW, an der sich rund 1.200 Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes und der Informationswirtschaft mit Sitz in Deutschland beteiligt haben.

ZEW, Pressemitteilung vom 15.05.2025

Repräsentative ZEW-Befragung zur Cybersicherheit

Unternehmen in Deutschland wappnen sich häufig mit Cyberversicherungen gegen mögliche Schäden durch Cyberkriminalität. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Befragung des ZEW Mannheim, an der sich von Mitte März bis Mitte April 2025 rund 1.200 Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes und der Informationswirtschaft mit Sitz in Deutschland beteiligt haben.

„Fast jedes zweite Unternehmen in den von uns untersuchten Branchen verfügt über eine Cyberversicherung, um sich gegen Cyberangriffe und dadurch verursachte Schäden abzusichern. Je nach Branche und Unternehmensgröße variiert die Verbreitung solcher Versicherungen dennoch teils deutlich“, kommentiert Dr. Daniel Erdsiek, Leiter der Befragung aus dem ZEW-Forschungsbereich „Digitale Ökonomie“, die Ergebnisse. Cyberversicherungen können bei betroffenen Unternehmen im Schadensfall die Kosten für Eigen- und Drittschäden tragen und durch IT-Experten, Anwälte und PR-Spezialisten unterstützen.

Größere Unternehmen häufiger versichert

Die Anzahl der Cyberattacken, denen sich Unternehmen ausgesetzt sehen, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Die Ursachen für die gestiegene Bedrohungslage sind vielfältig: Beispielsweise führen geopolitische Spannungen zu staatlich unterstützten Cyberangriffen, fortschrittliche Techniken stehen zunehmend für kriminelle Akteure zur Verfügung oder auch die erhöhte Verbreitung flexibler Arbeitsmodelle wie die Arbeit im Homeoffice lässt zusätzliche Einfallstore für Attacken entstehen.

In der Informationswirtschaft hat etwa die Hälfte der Unternehmen eine Cyberversicherung abgeschlossen. Dabei steigt die Verbreitung entsprechender Versicherungen mit der Unternehmensgröße. „Bei den großen Unternehmen mit mindestens 100 Beschäftigten verfügen etwa zwei Drittel über eine Cyberversicherung. Bei den mittleren Unternehmen mit 20 bis 99 Beschäftigten sind es noch 59 Prozent, während der Anteil bei kleinen Unternehmen mit 46 Prozent deutlich geringer ausfällt“, erklärt Dr. Thomas Niebel, ebenfalls Wissenschaftler im Forschungsbereich „Digitale Ökonomie“ und Ko-Autor der Studie. Die höhere Nutzungsrate von Cyberversicherungen bei größeren Unternehmen ist insofern plausibel, weil sie häufiger zum Ziel von Cyberattacken werden. Über alle Größenklassen hinweg plant etwa jedes fünfte Unternehmen künftig eine Cyberversicherung abzuschließen.

Höchste Nutzungsrate in der Chemie- und Pharmaindustrie

Im Vergleich zur Informationswirtschaft variiert die Verbreitung von Cyberversicherungen im Verarbeitenden Gewerbe noch stärker mit der Unternehmensgröße. Nur etwa ein Drittel der kleinen Unternehmen mit fünf bis 19 Beschäftigten verfügt derzeit über eine solche Versicherung. Dieser Anteil steigt bei mittleren Unternehmen auf 47 Prozent und bei großen Unternehmen sogar auf 64 Prozent.

„Neben der Größe spielt auch die Branchenzugehörigkeit eine wichtige Rolle für die Verbreitung von Cyberversicherungen“, sagt Niebel. „Besonders hoch fällt die Nutzungsrate in der Chemie- und Pharmaindustrie aus. Hier verfügen 58 Prozent der Unternehmen über eine entsprechende Absicherung. Mögliche Ursache hierfür könnten spezielle Sicherheitsaspekte und auch besonders hohe finanzielle Verluste beim Ausfall der IT-Systeme sein.“ Unter den wissensintensiven Dienstleistern und den Unternehmen im Maschinenbau, Fahrzeugbau und der IKT-Branche ist jeweils etwa die Hälfte durch eine Versicherung gegen Cyberschäden geschützt. Mit deutlichem Abstand sind Cyberversicherungen bei Mediendienstleistern am wenigsten verbreitet (26 Prozent).

Prävention bleibt wichtig

Wichtig bleibt jedoch nach wie vor die Prävention, erläutert Erdsiek: „Unternehmen können sich mit gezielten Maßnahmen vor Cyberangriffen schützen. Dazu zählen etwa technische Sicherheitsmaßnahmen, wie Firewalls und Virenschutzprogramme, aber auch regelmäßige Datensicherungen und Mitarbeiterschulungen zur Sensibilisierung bezüglich sicherheitsrelevantem Verhalten. Cyberversicherungen können deshalb nur den Schutz vor Cyberkriminalität und ähnlichen Risiken ergänzen, in dem sie betroffene Unternehmen im tatsächlichen Schadensfall mit den vereinbarten Leistungen unterstützen.“

Quelle: ZEW

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Zur Abgrenzung zwischen einem privaten Veräußerungsgeschäft i. S. d. § 23 EStG und einem erbrechtlichen Vorgang mit Versorgungscharakter bzw. einer gemischten Schenkung

Das FG Düsseldorf hatte darüber zu entscheiden, ob eine Klägerin Einkünfte aus einem privaten Veräußerungsgeschäft erzielte – in Abgrenzung zu einem nichtsteuerbaren erbrechtlichen Vorgang sowie einer gemischten Schenkung (Az. 10 K 245/22 E).

FG Düsseldorf, Mitteilung vom 14.05.2025 zum Urteil 10 K 245/22 E vom 08.04.2025 (nrkr)

Der 10. Senat hatte darüber zu entscheiden, ob eine Klägerin Einkünfte aus einem privaten Veräußerungsgeschäft erzielte – in Abgrenzung zu einem nichtsteuerbaren erbrechtlichen Vorgang sowie einer gemischten Schenkung.

Die Klägerin und ihre Mutter sind Erben des verstorbenen Vaters der Klägerin. Zwischen der Klägerin und der Mutter wurden Vereinbarungen getroffen, wonach der Klägerin ein Pflichtteilsanspruch in bestimmter Höhe zustand. Zwischenzeitlich wurde die Mutter aufgrund einer Demenzerkrankung in einem Heim untergebracht. Die Kosten dafür übernahm letztlich die Klägerin.

Die Klägerin erwarb von der Mutter ein bebautes Grundstück, das nach Einholung eines Sachverständigengutachtens (lediglich) einen Verkehrswert von 52.000 Euro gehabt habe. Zwei Jahre später veräußerte sie es für 160.000 Euro weiter.

Das beklagte Finanzamt war der Auffassung, dass ein Veräußerungsgewinn in Höhe von 108.000 Euro als privates Veräußerungsgeschäft zu versteuern sei.

Die Klägerin meinte dagegen, dass es sich bei dem Grundstückserwerb um einen nichteinkommensteuerbaren erbrechtlichen Vorgang mit Versorgungscharakter handele. Denn im Zeitpunkt der Grundbesitzübertragung sei nicht absehbar gewesen, für welchen Zeitraum die Kostenübernahme für die Mutter der Klägerin noch andauern werde. Deshalb habe die Klägerin durch den Grundstückserwerb die rechtliche Stellung des früheren Anschaffungsvorgangs der Mutter der Klägerin fortgesetzt. Hilfsweise handele es sich um eine gemischte Schenkung, insbesondere da die damalige Bewertung offensichtlich grob fehlerhaft zu niedrig erfolgt sei. Bei Aufteilung des Anschaffungsvorgangs in einen entgeltlichen und unentgeltlichen Teil sei der unentgeltlich erworbene Anteil nicht steuerbar und der entgeltliche Teil im konkreten Fall mit einem Gewinn von EUR 0 zu bemessen.

Der 10. Senat wies die Klage mit Urteil vom 8. April 2025 (Az. 10 K 245/22 E) ab. Bei Würdigung der Umstände des konkreten Einzelfalls, insbesondere des Übertragungsvertrags, seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin ihrer Mutter eine auf ihre Versorgung gerichtete Zusage für die Übertragung des streitgegenständlichen Grundbesitzes gemacht haben könnte. Vielmehr liege eine (teilweise) Erfüllung der erbrechtlichen Forderung der Klägerin gegenüber ihre Mutter vor. Auch eine gemischte Schenkung sei zu verneinen. Es könne nicht festgestellt werden, dass eine (teilweise) unentgeltliche Übertragung subjektiv gewollt gewesen sei.

Die Entscheidung, zu der der Senat die Revision zum Bundesfinanzhof nicht zugelassen hat, war bei Redaktionsschluss noch nicht rechtskräftig.

Quelle: Finanzgericht Düsseldorf, Newsletter Mai 2025

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MwSt-Vorschriften: Rat legt Standpunkt zu Richtlinie zur Vereinfachung der Steuererhebung bei Einfuhren fest

Der Rat der EU hat eine Einigung über den Standpunkt der Mitgliedstaaten (sog. allgemeine Ausrichtung) zur Richtlinie über die Mehrwertsteuervorschriften für Fernverkäufe eingeführter Gegenstände und die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr erzielt.

Rat der EU, Pressemitteilung vom 13.05.2025

Der Rat hat eine Einigung über den Standpunkt der Mitgliedstaaten (sog. allgemeine Ausrichtung) zur Richtlinie über die Mehrwertsteuervorschriften für Fernverkäufe eingeführter Gegenstände und die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr erzielt.

Ziel der Richtlinie ist es, die Erhebung der MwSt auf eingeführte Gegenstände zu verbessern, indem die MwSt-Last bei der Einfuhr auf die Lieferer verlagert wird; damit soll ein Anreiz für sie geschaffen werden, die einzige Anlaufstelle für die Einfuhr (Import One-Stop-Shop, IOSS) zu verwenden.

Die MwSt-Erhebung auf Einfuhren über die einzige Anlaufstelle für die Einfuhr wird den öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zugutekommen und den Weg für die laufenden Verhandlungen über die Reform des Zollkodex der Union ebnen, die eine zentrale Priorität unseres Vorsitzes ist.

Andrzej Domanski, polnischer Finanzminister

Einzige Anlaufstelle für die Einfuhr (Import One-Stop-Shop, IOSS)

Ausländische Händler oder Plattformen werden in Bezug auf die MwSt bei der Einfuhr und die MwSt auf Fernverkäufe von Gegenständen, die in die Mitgliedstaaten des endgültigen Bestimmungsorts der Gegenstände eingeführt werden, steuerpflichtig werden. Dies wird für ausländische Händler oder Plattformen einen Anreiz für die Nutzung der IOSS darstellen, da sie sich ansonsten in jedem Mitgliedstaat registrieren müssten.

Die IOSS dient als Kontaktstelle für Importeure von Gegenständen aus Drittländern in die Europäische Union. Ihr Ziel ist es, die Erklärung und Entrichtung der MwSt bei der Einfuhr von Gegenständen in die EU zu vereinfachen, indem eine Registrierung nur in einem Mitgliedstaat erforderlich ist, auch bei Verkäufen in der gesamten EU.

Da die IOSS die Entrichtung der MwSt im Voraus (zum Zeitpunkt des Kaufs durch den Verbraucher) anstatt an der Grenze ermöglicht, schützt sie die Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten und erhöht die Einhaltung der MwSt-Vorschriften bei Einfuhren. Außerdem verlagert sie die Last der MwSt-Erhebung von den Verbrauchern auf die Plattformen; dies möchte der Rat mit der Reform des Zollkodex der Union auch für Zölle erreichen.

Nächste Schritte

Die Richtlinie ist Gegenstand eines besonderen Gesetzgebungsverfahrens; für eine Einigung über den Entwurf ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich. Das Europäische Parlament wird zu dem vereinbarten Text konsultiert und um Stellungnahme ersucht. Anschließend muss der Text vom Rat förmlich angenommen werden, bevor er im Amtsblatt der EU veröffentlicht wird und in Kraft tritt.

Hintergrund

Die Europäische Kommission hat am 17. Mai 2023 ein Zollreformpaket veröffentlicht, das aus drei Gesetzgebungsvorschlägen besteht, darunter die Richtlinie des Rates über die Mehrwertsteuervorschriften für Fernverkäufe eingeführter Gegenstände und die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr. Der ursprüngliche Vorschlag enthielt unter anderem Bestimmungen zur Aufhebung der Zollbefreiung für Gegenstände im Wert von bis zu 150 Euro.

Der Rat beschloss jedoch, diese ursprünglich im Vorschlag vorgesehenen Bestimmungen beiseitezulassen und sie im Kontext der laufenden Verhandlungen über die Zollreform zu erörtern. Im Mittelpunkt des Textes, zu dem die Mitgliedstaaten heute eine allgemeine Ausrichtung festgelegt haben, stehen Maßnahmen zur Förderung der Nutzung der IOSS.

Quelle: Rat der Europäischen Union

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EU-Kommission startet „Union der Kompetenzen“ gegen Fachkräftemangel in Europa

Die EU-Kommission will dem Fachkräftemangel begegnen. Ein zentrales Ziel der Strategie ist die Förderung bislang unzureichend ausgeprägter mathematisch-naturwissenschaftlicher und digitaler Grundkompetenzen junger Menschen. Der DStV begrüßt dieses Vorhaben ausdrücklich. Denn die beratenden und prüfenden Berufe werden künftig ein zunehmend digitales und komplexes Anforderungsprofil aufweisen.

DStV, Mitteilung vom 14.05.2025

Mit der „Union der Kompetenzen“ will die EU-Kommission dem Fachkräftemangel begegnen. Auch der Berufsstand kann davon profitieren. Eine Reform zur Anerkennung von Berufsqualifikationen darf aber nicht zum Abbau der Eignungsprüfungen führen.

Der europäische Arbeitsmarkt steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Digitalisierung, demografischer Wandel und der globale Wettbewerb um Nachwuchskräfte stellen nahezu alle Branchen vor große Herausforderungen. Gleichzeitig verändern sich die Anforderungen an Beschäftigte und Freiberufler, insbesondere digitale Kompetenzen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Viele Unternehmen sehen sich zudem mit wachsendem Fachkräftemangel konfrontiert, auch die Steuerberatungsbranche ist betroffen. Mit der Union der Kompetenzen (engl. Union of Skills) will die EU-Kommission diesen Entwicklungen strategisch begegnen. Sie benennt dazu fünf Handlungsfelder, um Qualifikations- und Fachkräftemangel in Europa gezielt entgegenzuwirken.

Ein zentrales Ziel der Strategie ist die Förderung bislang unzureichend ausgeprägter mathematisch-naturwissenschaftlicher und digitaler Grundkompetenzen junger Menschen. Der Deutsche Steuerberaterverband e.V. (DStV) begrüßt dieses Vorhaben ausdrücklich. Denn die beratenden und prüfenden Berufe werden künftig ein zunehmend digitales und komplexes Anforderungsprofil aufweisen. Bereits Berufseinsteiger müssen grundlegende digitale Fähigkeiten mitbringen, etwa im Umgang mit KI-gestützten Tools, um den beruflichen Alltag zu meistern. Zugleich soll das Konzept des lebenslangen Lernens bei Erwachsenen gestärkt werden. Durch gezielte Weiterbildungen und Umschulungen sollen Erwerbstätige kontinuierlich neue Kompetenzen erwerben können, um mit dem Strukturwandel der europäischen Volkswirtschaften Schritt zu halten. Die im Berufsrecht verankerte Fortbildungspflicht mit ihrem Fokus auf dem Kompetenzerhalt zur qualifizierten Mandatsbetreuung folgt dieser Logik im Grundsatz bereits. Sie ist jedoch nicht so breit und branchenübergreifend angelegt wie das europäische Konzept.

Von besonderer Bedeutung ist zudem die für 2026 angekündigte Skills Portability Initiative und damit die Reform der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen durch die Mitgliedstaaten. Ein solches Anerkennungsverfahren ist für die dauerhafte Ausübung reglementierter Dienstleistungen, etwa der Steuerberatung, in einem anderen EU-Land erforderlich. In Deutschland müssen Bewerber mit einem Befähigungs- oder Ausbildungsnachweis zur Berechtigung der selbstständigen Hilfe in Steuersachen, ihre Qualifikation durch eine Eignungsprüfung nachweisen, wenn dieser Nachweis in einem anderen Mitgliedstaat, einem Vertragsstaat des Europäischen Wirtschaftsraums oder in der Schweiz erworben wurde (§§ 37 a Abs. 2 bis 4, 37 b Abs. 3 StBerG).

Der DStV fordert dabei, dass teils langwierige und komplexe Anerkennungsverfahren vereinfacht, vollständig digitalisiert und erheblich beschleunigt werden. Gleichzeitig darf die Reform der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen aber nicht dazu führen, dass die Steuerberufe aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie gestrichen werden. Zudem muss die Zuständigkeit der Steuerberaterkammern zur Durchführung der Eignungsverfahren im Wege der Selbstverwaltung erhalten bleiben.

Quelle: Deutscher Steuerberaterverband e.V. – www.dstv.de

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