BFH: Parkhaus als erbschaftsteuerrechtlich nicht begünstigtes Verwaltungsvermögen

Ein Parkhaus ist in der Erbschaftsteuer nicht begünstigt. Dies entschied der BFH (Az. II R 27/21).

BFH, Pressemitteilung Nr. 29/24 vom 27.06.2024 zum Urteil II R 27/21 vom 28.02.2024

Ein Parkhaus ist in der Erbschaftsteuer nicht begünstigt – dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) mit Urteil vom 28.02.2024 – II R 27/21 – entschieden.

Der Kläger war testamentarisch eingesetzter Alleinerbe seines im Jahr 2018 verstorbenen Vaters, des Erblassers. Zum Erbe gehörte ein mit einem Parkhaus bebautes Grundstück. Der Erblasser hatte das Parkhaus als Einzelunternehmen ursprünglich selbst betrieben und ab dem Jahr 2000 dann unbefristet an den Kläger verpachtet. Das Finanzamt stellte den Wert des Betriebsvermögens fest. Dabei behandelte es das Parkhaus als sog. Verwaltungsvermögen, das bei der Erbschaftsteuer nicht begünstigt ist. Das Finanzgericht und der BFH schlossen sich dieser Auffassung an.

Nach dem Urteil des BFH wird Betriebsvermögen bei der Erbschaftsteuer grundsätzlich privilegiert. Das gilt allerdings nicht für bestimmte Gegenstände des gesetzlich so bezeichneten Verwaltungsvermögens. Darunter fallen dem Grunde nach auch „Dritten zur Nutzung überlassene Grundstücke“. Diese können im Rahmen der Erbschaftsteuer zwar auch begünstigt sein, etwa wenn – wie im Streitfall – der Erblasser seinen ursprünglich selbst betriebenen Gewerbebetrieb unbefristet verpachtet und den Pächter testamentarisch als Erben einsetzt. Eine Ausnahme besteht dabei jedoch für solche Betriebe, die schon vor der Verpachtung nicht die Voraussetzungen der erbschaftsteuerrechtlichen Privilegierung erfüllt haben. Dies ist bei einem Parkhaus der Fall. Denn die dort verfügbaren Parkplätze als Teile des Parkhausgrundstücks wurden schon durch den Erblasser als damaligen Betreiber an die Autofahrer – und somit an Dritte – zur Nutzung überlassen. Zudem handelt es sich dabei auch nicht um die Überlassung von Wohnungen, die der Gesetzgeber wiederum aus Gründen des Gemeinwohls für die Erbschaftsteuer privilegiert hat. Keine Rolle spielt auch, ob zu der Überlassung der Parkplätze weitere gewerbliche Leistungen wie beispielsweise eine Ein- und Ausfahrtkontrolle und eine Entgeltzahlungsdienstleistung hinzukommen. Darauf stellt das Erbschaftsteuergesetz nicht ab. Der BFH sah darin auch keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Verhältnis zu anderen Grundstücksüberlassungen, wie zum Beispiel im Rahmen des Absatzes eigener Erzeugnisse durch einen Brauereibetrieb oder im Zusammenhang mit einer land- und forstwirtschaftlicher Betriebstätigkeit. Denn dass der Gesetzgeber solche Betriebe – wie auch die erwähnten Wohnungsunternehmen – als förderungswürdig ansah, ist von seinem weiten Entscheidungsspielraum gedeckt.

Leitsatz:

  1. Im Rahmen eines Parkhausbetriebs Dritten zur Nutzung überlassene Parkplätze stellen erbschaftsteuerrechtlich nicht begünstigtes Verwaltungsvermögen dar. Eine einschränkende Auslegung der entsprechenden Normen ist weder aus systematischen noch aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.
  2. Die Entscheidung des Gesetzgebers, bestimmte Nutzungsüberlassungen von Grundstücken nicht als schädliches Verwaltungsvermögen zu qualifizieren, ist durch seinen weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum gedeckt.

Tenor:

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 10.06.2021 – 7 K 2718/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Gründe:

I.

1

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Alleinerbe seines am xx.xx.2018 verstorbenen Vaters (Erblasser). Die Erbeinsetzung erfolgte durch notariell beurkundetes Testament.

2

Zum Nachlassvermögen gehört das Einzelunternehmen des Erblassers. Dieses umfasste ein mit einem Parkhaus und einer Tankstelle bebautes Grundstück. Das Parkhaus, das täglich 24 Stunden geöffnet war, hatte der Erblasser ursprünglich selbst betrieben. Ab Anfang 2000 verpachtete er es unbefristet an den Kläger. Die Einnahmen aus dem Pachtverhältnis führten beim Erblasser zu gewerblichen Einkünften nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Tankstelle, die 7,12 % der gesamten Bruttofläche des bebauten Grundstücks ausmachte, war bis Ende 2018 an eine GmbH verpachtet.

3

In seiner Erklärung zur Feststellung des Werts des Betriebsvermögens auf den Bewertungsstichtag xx.xx.2018 gab der Kläger den gemeinen Wert des gesamten Betriebsvermögens mit … € an. Verwaltungsvermögen war nach seiner Erklärung nicht vorhanden.

4

Nachdem ein erster Feststellungsbescheid vom 11.05.2020 im Rahmen des dagegen anhängigen Einspruchsverfahrens aufgehoben wurde, stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) mit Feststellungsbescheid vom 07.07.2020 den Wert des Betriebsvermögens fest. Die Summen der gemeinen Werte der Vermögensgegenstände des Verwaltungsvermögens wurden auf … € festgestellt, was dem erklärten Wert des gesamten mit dem Parkhaus und der Tankstelle bebauten Grundstücks entsprach.

5

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den Feststellungsbescheid vom 07.07.2020 wurden während des Klageverfahrens mit Änderungsbescheid vom 10.06.2021 der Wert des Betriebsvermögens auf … € und die Summen der gemeinen Werte der Vermögensgegenstände des Verwaltungsvermögens auf … € festgestellt. Die Summen der gemeinen Werte der Vermögensgegenstände des Verwaltungsvermögens entsprachen dem Grundbesitzwert, den die Bewertungsstelle zuvor für das gesamte bebaute Grundstück festgestellt hatte.

6

Die Klage vor dem Finanzgericht (FG) blieb erfolglos. Das FG führte zur Begründung im Wesentlichen aus, bei dem mit dem Parkhaus und der Tankstelle bebauten Grundstück handle es sich insgesamt um Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes (ErbStG). Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2021, 1831 veröffentlicht.

7

Mit seiner Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1, Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa und Buchst. b Satz 2 ErbStG geltend.

8

Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa und Buchst. b Satz 2 ErbStG seien teleologisch und verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass es sich bei einem Parkhausbetrieb nicht um steuerschädliches Verwaltungsvermögen handle. Sollte der Bundesfinanzhof (BFH) eine solche Auslegung nicht durchführen, sei hilfsweise das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) darüber einzuholen, ob ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vorliege, wenn ein gewerblicher Parkhausbetrieb im Unterschied zu anderen gewerblichen Betrieben als steuerschädliches Verwaltungsvermögen einzustufen sei.

9

Die Feststellung im BFH-Urteil vom 02.12.2020 – II R 22/18 (BFHE 272, 120, BStBl II 2022, 66), wonach die Rückausnahmen einer teleologischen Reduktion nicht zugänglich seien, sei nicht tragfähig. Diese Feststellung betreffe die Vorgängervorschrift. Diese sei geändert worden, indem in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG ein neuer Buchst. e eingefügt worden sei. Der neue Buchst. e sei eine Sonderregelung für bayerische Brauereien, die ihre Grundstücke für den Betrieb von Gaststätten vermieten und dorthin auch Bier liefern würden. Die Aufnahme dieser weiteren Sonderregelung zeige, dass von einer abschließenden Systematik bei der Gestaltung der Rückausnahmen zu § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG nicht die Rede sein könne. Auch der Finanzausschuss habe in 2008 bereits ausgeführt (BTDrucks 16/11107, S. 11), dass er den Katalog in § 13b Abs. 2 ErbStG a.F. nicht als abschließend ansehe. Dies sei im Rahmen der historischen Auslegung zu berücksichtigen. Eine systematische Auslegung der Rückausnahmen in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG spreche dafür, dass ein sachlicher Zusammenhang zu einer unternehmerischen Tätigkeit prägend sei und die Gegenstände des Verwaltungsvermögens den Hauptzweck der unternehmerischen Tätigkeit darstellen würden. Bei einem Parkhausbetrieb sei die Überlassung der Grundstücke der Hauptzweck der unternehmerischen Tätigkeit. Außerdem würden gewerbliche Zusatzleistungen erbracht. Das BVerfG habe in seinem Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 (BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50, Rz 238 ff.) dargelegt, dass der Gesetzgeber mit der Bestimmung über das Verwaltungsvermögen überwiegend vermögensverwaltende Betriebe von der Verschonung ausnehmen habe wollen, weil „Vermögen, das in erster Linie der weitgehend risikolosen Renditeerzielung dient und in der Regel weder die Schaffung von Arbeitsplätzen noch zusätzliche volkswirtschaftliche Leistungen bewirkt,“ nicht begünstigt werden solle (vgl. BTDrucks 16/7918, S. 35 f.).

10

Hauptziel der Verschonungsregelung sei danach, den Bestand von in personaler Verantwortung geführten Betrieben zu erhalten und Arbeitsplätze trotz eines erbfallbedingten Wechsels des Betriebsinhabers zu sichern. Dieser Sinn und Zweck sei bei der Auslegung der Regelungen über das Verwaltungsvermögen zu berücksichtigen. Ein Parkhausbetrieb diene nicht der risikolosen Renditeerzielung, sondern stelle ein Unternehmen dar, mit dem Arbeitsplätze geschaffen würden und das volkswirtschaftliche Leistungen erbringe. Auch die Finanzverwaltung sei der Auffassung, dass es auf die Frage ankomme, ob die Tätigkeit der Grundstücksüberlassung insgesamt wegen der Zusatzleistungen nach ertragsteuerrechtlichen Grundsätzen als originär gewerbliche Tätigkeit einzustufen sei. Demzufolge seien nach ihrer Ansicht Beherbergungsbetriebe wie Hotels, Pensionen oder Campingplätze erbschaftsteuerrechtlich begünstigtes Betriebsvermögen (R E 13b.13 der Erbschaftsteuer-Richtlinien –ErbStR– 2019 vom 16.12.2019, BStBl I 2019, Sondernr. 1/2019). Da danach auf ertragsteuerrechtliche Kriterien abzustellen sei, sei auch die Grundstücksüberlassung im Rahmen eines Parkhausbetriebs als erbschaftsteuerrechtlich begünstigte Tätigkeit einzustufen. Ein Parkhausbetrieb erschöpfe sich nicht in der bloßen Nutzungsüberlassung von Grundstücken. Für die gewerblichen Zusatzleistungen werde weiteres Personal neben dem Betriebsinhaber benötigt, wie es im Streitfall an der Beschäftigung von zwei zusätzlichen Vollzeitkräften und zwei geringfügig Beschäftigten deutlich werde. Es würden Arbeitsplätze geschaffen und eine volkswirtschaftlich notwendige Leistung durch die Parkplatzgestellung an einen kurzfristig wechselnden Personenkreis erbracht, der innerstädtisch auf solche Parkplätze angewiesen sei.

11

Es gebe schließlich verfassungsrechtliche Bedenken, wenn man Parkhausbetriebe und Beherbergungsbetriebe insgesamt als nicht begünstigte Betriebe behandeln würde. Das BVerfG habe in seinem Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12 (BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50, Rz 123 ff.) dargelegt, dass die einmal getroffene Belastungsentscheidung der Prüfung am allgemeinen Gleichheitssatz standhalten müsse. Der steuerrechtliche Tatbestand müsse folgerichtig ausgestaltet sein. Dem werde die Auffassung, Parkhausbetriebe oder Beherbergungsbetriebe nicht als begünstigtes Unternehmensvermögen einzustufen, nicht gerecht. Gewerbebetriebe wie eine Bäckerei und ein Zeitungskiosk wären begünstigt, Parkhäuser und Hotels dagegen nicht. Ein erbschaftsteuerrechtlicher Grund sei nicht ersichtlich. Es handle sich in beiden Fällen um produktives Vermögen und es würden Arbeitskräfte eingesetzt. Dies gelte erst recht, wenn man die Rückausnahmen des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG einbeziehe. Brauereibetriebe, die Grundstücke an angeschlossene Gaststätten vermieten würden oder Mineralölunternehmen, die Tankstellengrundstücke angeschlossenen Tankstellen überlassen würden, könnten diese Grundstücke dem erbschaftsteuerrechtlichen Betriebsvermögen zuordnen. Hier läge ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Eine folgerichtige Belastungsentscheidung könne nur darin liegen, auch Parkhausbetriebe und Hotelbetriebe erbschaftsteuerrechtlich zu begünstigen.

12

Für die Auslegung des Begriffs der Vermögensverwaltung sei auf § 14 Satz 3 der Abgabenordnung (AO) zurückzugreifen. Die Überlassung von Parkplätzen sei keine Vermögensverwaltung nach § 14 Satz 3 AO. Er –der Kläger– unterhalte einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, der insbesondere für die kurzfristige Vermietung notwendig sei.

13

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Feststellungsbescheid vom 10.06.2021 dahingehend zu ändern, dass die Summen der gemeinen Werte der Vermögensgegenstände des Verwaltungsvermögens auf … € (= 7,12 % der festgestellten Summen der gemeinen Werte der Vermögensgegenstände des Verwaltungsvermögens) festgestellt werden,

hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage einzuholen, ob es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wäre, dass § 13b Abs. 4 Nr. 1 ErbStG Parkhausbetriebe als Verwaltungsvermögen einstuft.

14

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

15

Das Bundesministerium der Finanzen ist dem Verfahren am 27.06.2023 beigetreten (§ 122 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Es hat keinen Antrag gestellt. Es unterstützt inhaltlich das Vorbringen des FA.

II.

16

Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zu Recht die Klage abgewiesen.

17

1. Das von dem Kläger als Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers erworbene Parkhaus gehört zum Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG, sodass der Wert des Betriebsvermögens nach § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG insgesamt nicht begünstigt ist.

18

a) Für den Erwerb von Betriebsvermögen sieht § 13a i.V.m. § 13b ErbStG unter bestimmten Voraussetzungen Steuerbefreiungen vor. Zum begünstigungsfähigen Vermögen gehört gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG inländisches Betriebsvermögen (§§ 95 bis 97 Abs. 1 Satz 1 des Bewertungsgesetzes) beim Erwerb eines ganzen Gewerbebetriebs. Das begünstigungsfähige Vermögen ist nach § 13b Abs. 2 Satz 1 ErbStG begünstigt, soweit sein gemeiner Wert den um das unschädliche Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 7 ErbStG gekürzten Nettowert des Verwaltungsvermögens im Sinne des § 13b Abs. 6 ErbStG übersteigt (begünstigtes Vermögen). Abweichend von § 13b Abs. 2 Satz 1 ErbStG ist der Wert des begünstigungsfähigen Vermögens nach § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG vollständig nicht begünstigt, wenn das Verwaltungsvermögen nach § 13b Abs. 4 ErbStG vor der Anwendung des § 13b Abs. 3 Satz 1 ErbStG, soweit das Verwaltungsvermögen nicht ausschließlich und dauerhaft der Erfüllung von Schulden aus durch Treuhandverhältnisse abgesicherten Altersversorgungsverpflichtungen dient und dem Zugriff aller übrigen nicht aus diesen Altersversorgungsverpflichtungen unmittelbar berechtigten Gläubiger entzogen ist, sowie der Schuldenverrechnung und des Freibetrags nach § 13b Abs. 4 Nr. 5 ErbStG sowie § 13b Abs. 6 und 7 ErbStG mindestens 90 % des gemeinen Werts des begünstigungsfähigen Vermögens beträgt.

19

b) Die Wirtschaftsgüter des Verwaltungsvermögens sind in § 13b Abs. 4 Nr. 1 bis 5 ErbStG abschließend aufgezählt. Maßgebend für die Einordnung von Wirtschaftsgütern als Verwaltungsvermögen sind die Verhältnisse am Stichtag der Entstehung der Steuer (§ 9 Abs. 1 ErbStG; vgl. R E 13b.12 Abs. 2 Satz 1 ErbStR 2019; vgl. BFH-Urteil vom 23.02.2021 – II R 26/18, BFHE 272, 486, BStBl II 2022, 72, Rz 19, zu der Vorgängervorschrift § 13b Abs. 2 Satz 2 ErbStG a.F.).

20

c) Zu dem von der Begünstigung des Betriebsvermögens ausgeschlossenen Verwaltungsvermögen gehören unter anderem gemäß § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG Dritten zur Nutzung überlassene Grundstücke und Grundstücksteile.

21

aa) Die Formulierung „Grundstücke und Grundstücksteile“ orientiert sich an der Formulierung in § 266 Abs. 2 A.II.1 des Handelsgesetzbuchs und ist anhand zivilrechtlicher Vorgaben zu bestimmen. „Grundstück“ ist danach eine unbewegliche Sache im Sinne des § 90 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) und ein räumlich abgegrenzter, im Grundbuch auf einem gesonderten Grundbuchblatt geführter Teil der Erdoberfläche (vgl. Grüneberg/Herrler, Bürgerliches Gesetzbuch, 83. Aufl., Überbl v § 873 Rz 1). Zu den wesentlichen Bestandteilen eines Grundstücks gehören die mit dem Grund und Boden fest verbundenen Sachen, insbesondere Gebäude (§ 94 Abs. 1 Satz 1 BGB). „Grundstücksteile“ sind als Teile von Grundstücken im vorgenannten Sinn zu verstehen. Dazu gehört auch ein Parkhaus sowie die darin gelegenen einzelnen Parkplätze.

22

bb) „Dritter“ im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG ist jede Person, die nicht mit dem Nutzungsüberlassenden identisch ist. Dritte können natürliche Personen –auch Angehörige–, Kapitalgesellschaften oder Personengesellschaften sein (vgl. BFH-Urteil vom 23.02.2021 – II R 26/18, BFHE 272, 486, BStBl II 2022, 72, Rz 19, zu § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 1 ErbStG a.F.).

23

cc) Auf den Rechtsgrund der Nutzungsüberlassung kommt es für die erbschaft- und schenkungsteuerrechtliche Einordnung als Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG nicht an. Sie kann zum Beispiel aufgrund eines –entgeltlichen oder unentgeltlichen– Miet-, Pacht- oder Leihvertrags erfolgen (vgl. Kirnberger in Wilms/Jochum, ErbStG/BewG/GrEStG, § 13b ErbStG Rz 64, Stand November 2022). Danach ist auch die reine Gebrauchsüberlassung im Rahmen eines Mietvertrags (§ 535 BGB) eine Nutzungsüberlassung (vgl. BFH-Urteil vom 24.10.2017 – II R 44/15, BFHE 260, 363, BStBl II 2018, 358, zu § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG a.F.).

24

d) Nach diesen Grundsätzen hat das FG zu Recht ausgeführt, dass es sich bei dem Parkhaus und der Tankstelle um Dritten zur Nutzung überlassene Grundstücksteile handelt. Das Parkhaus war zum Todeszeitpunkt des Erblassers an den Kläger, die Tankstelle an eine GmbH verpachtet.

25

2. Zutreffend hat das FG entschieden, dass die in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG normierte Rückausnahme aufgrund der Regelung des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG nicht zur Anwendung kommt.

26

a) Nach § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG ist eine Nutzungsüberlassung an Dritte nicht anzunehmen, wenn die Nutzungsüberlassung im Rahmen der Verpachtung eines ganzen Betriebs erfolgt, welche beim Verpächter zu Einkünften nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG führt und der Verpächter des Betriebs im Zusammenhang mit einer unbefristeten Verpachtung den Pächter durch eine letztwillige Verfügung als Erben eingesetzt hat. Die Rückausnahmen in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. a bis f ErbStG sind eng auszulegen. Es handelt sich nicht um Regelbeispiele, sondern um einen Katalog, in dem der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Rückführung des von der Begünstigung des Betriebsvermögens ausgenommenen Verwaltungsvermögens in die Begünstigung abschließend festlegt (vgl. auch BFH-Urteil vom 02.12.2020 – II R 22/18, BFHE 272, 120, BStBl II 2022, 66, zu § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 2 ErbStG a.F.).

27

b) Danach waren die Voraussetzungen der Rückausnahme zwar für das Parkhaus, nicht jedoch für die Tankstelle erfüllt.

28

aa) Hinsichtlich der Tankstelle ist die Rückausnahme –wie durch das FG ausgeführt– bereits deshalb nicht einschlägig, weil der Erblasser diese an eine GmbH verpachtet hatte, die er nicht als Erbin eingesetzt hat.

29

bb) In Bezug auf das Parkhaus liegen die Tatbestandsmerkmale der Rückausnahme vor. Der Parkhausbetrieb war unbefristet an den Kläger verpachtet. Die Verpachtung führte beim Erblasser zu Einkünften aus § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Der Erblasser hatte den Kläger als Pächter durch Testament als Erben eingesetzt.

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c) Jedoch scheitert die Anwendung der Rückausnahme in Bezug auf das an den Kläger verpachtete Parkhaus an den in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG normierten Einschränkungen, deren Voraussetzungen –wie durch das FG zutreffend angenommen– im Streitfall erfüllt sind.

31

aa) Nach § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG gilt die Rückausnahme des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG nicht für verpachtete Betriebe, soweit sie vor ihrer Verpachtung die Voraussetzungen als begünstigtes Vermögen nach § 13b Abs. 2 ErbStG nicht erfüllt haben und für verpachtete Betriebe, deren Hauptzweck in der Überlassung von Grundstücken, Grundstücksteilen, grundstücksgleichen Rechten und Bauten an Dritte zur Nutzung besteht, die nicht unter § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG fallen.

32

bb) Beide Einschränkungstatbestände des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG zu der in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. aa ErbStG angeführten Rückausnahme sind nach dem Wortlaut der Vorschrift erfüllt.

33

(1) Der vom Erblasser zum Zeitpunkt des Erbfalls an den Kläger als Erben verpachtete Betrieb war bereits vor seiner Verpachtung Verwaltungsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG und damit nicht begünstigtes Betriebsvermögen im Sinne des § 13b Abs. 2 ErbStG. Denn der Erblasser vermietete die im Parkhaus befindlichen Parkplätze als Grundstücksteile den Parkenden –und somit Dritten–. Unter den Begriff der Nutzungsüberlassung fällt auch die kurzfristige und langfristige Überlassung von Parkplätzen an Parkende, unabhängig davon, ob diese im Rahmen einer Miete oder Verwahrung erfolgt. Der Wortlaut des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG ist nicht auf eine längere Nutzungsüberlassung wie typischerweise aufgrund eines Miet- oder Pachtvertrags beschränkt.

34

(2) Da es sich bei der Überlassung von Parkplätzen auch nicht um die Überlassung von Wohnungen im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG handelt, greift auch der zweite Einschränkungstatbestand ein. § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 Alternative 2 ErbStG bezieht sich auf Wohnungsvermietungsgesellschaften im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG (zu den Voraussetzungen der Rückausnahme des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG –vormals § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG a.F.– vgl. BFH-Urteil vom 24.10.2017 – II R 44/15, BFHE 260, 363, BStBl II 2018, 358).

35

cc) Die historische Auslegung des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG führt –entgegen der Auffassung des Klägers– zu keinem anderen Ergebnis.

36

(1) Die Vorschrift wurde durch den Finanzausschuss des Deutschen Bundestags in den Entwurf des Erbschaftsteuerreformgesetzes eingefügt (BTDrucks 16/11075, S. 20). Dieser führte in der Begründung zu der Vorschrift unter anderem aus, im Gesetzesentwurf sei der Begriff des Verwaltungsvermögens bei den Dritten zur Nutzung überlassenen Grundstücken zu weit gefasst worden (BTDrucks 16/11107, S. 11). Damit werde bewirkt, dass auch solches Betriebsvermögen aus den Begünstigungen ausgenommen sein könne, das unmittelbar einem Betrieb und zugleich dem Erhalt von Arbeitsplätzen diene. Die Änderungen würden daher die Ausnahmen vom Verwaltungsvermögen weiten. Im Übrigen sei zu bemerken, dass bei Beherbergungsbetrieben überlassene Räume nicht zum Verwaltungsvermögen gehörten. Das gewerbliche Leistungsbündel schließe ein Bündel von zusätzlichen Dienstleistungen (Zimmerservice, Frühstück und so weiter) ein, die nur einheitlich angeboten und in Anspruch genommen würden.

37

(2) Dieses Verständnis des Finanzausschusses hat im Wortlaut des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG und insbesondere in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG jedoch keinen Niederschlag gefunden. Dort wurden die durch den Finanzausschuss erwähnten Beherbergungsbetriebe, die auch von der Finanzverwaltung in ihren Richtlinien angeführt werden (R E 13b.13 Satz 3 ErbStR 2019), von einer Nutzungsüberlassung an Dritte, die nach § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG zu steuerschädlichem Verwaltungsvermögen führt, nicht ausgenommen. Ebenso wenig werden dort Parkhausbetriebe erwähnt. Der Entstehungsgeschichte kommt zwar erhebliches Gewicht für die Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers zu. Es genügt aber nicht, dass sich Voraussetzungen oder Rechtsfolgen allein der Gesetzesbegründung entnehmen lassen. Der sogenannte Wille des Gesetzgebers beziehungsweise der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann hiernach bei der Interpretation nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text Niederschlag gefunden hat. Die Gesetzesmaterialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (BFH-Urteil vom 24.10.2017 – II R 44/15, BFHE 260, 363, BStBl II 2018, 358, Rz 31).

38

dd) Auch eine systematische Auslegung führt nicht zu dem Ergebnis, dass –wie der Kläger und die Finanzverwaltung in Bezug auf Hotelbetriebe meinen–, eine Nutzungsüberlassung von Grundstücksteilen an Dritte im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 ErbStG bzw. des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG nicht vorliegt, wenn die Nutzungsüberlassung zusammen mit einem Bündel an gewerblichen Leistungen erfolgt, sodass ein originär gewerblicher Betrieb im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 EStG vorliegt. Der Gesetzgeber hat im Wortlaut des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 und Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG nicht auf die Gewerblichkeit abgestellt. Von Bedeutung ist ebenso wenig, ob der Betrieb eines Parkhauses einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb im Sinne des § 14 Satz 1 AO erfordert. Diese Voraussetzung ist bei der Rückausnahme im Sinne des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG bei der Vermietung von Wohnungen ausdrücklich genannt, nicht aber in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG.

39

ee) Schließlich ist auch keine teleologische Reduktion von § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 und Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG und damit eine Ausdehnung des unschädlichen Verwaltungsvermögens in den Fällen geboten, in denen Parkplätze Dritten zur Nutzung überlassen werden.

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(1) Die teleologische Reduktion setzt eine Divergenz zwischen Gesetzeswortlaut und Gesetzeszweck voraus. Sie zielt darauf ab, den Geltungsbereich einer Norm mit Rücksicht auf ihren Gesetzeszweck gegenüber dem zu weit gefassten Wortlaut einzuschränken. Sie kommt nur in Betracht, wenn die auf den Wortlaut abstellende Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen würde. Es bedarf demnach einer verdeckten Regelungslücke. Lässt sich ein bestimmter Gesetzeszweck hingegen nicht sicher feststellen, so ist für eine teleologische Reduktion kein Raum (BFH-Urteil vom 09.03.2023 – IV R 25/20, BFHE 279, 545, BStBl II 2023, 836, Rz 25).

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(2) Mit den Regelungen zur erbschaftsteuerrechtlichen Begünstigung von Betriebsvermögen im Sinne der §§ 13a und 13b ErbStG wollte der Gesetzgeber produktives Vermögen begünstigen, solches Vermögen hingegen, das in erster Linie der weitgehend risikolosen Renditeerzielung dient und in der Regel weder die Schaffung von Arbeitsplätzen noch zusätzliche volkswirtschaftliche Leistungen bewirkt, von der Begünstigung ausnehmen (BTDrucks 16/7918, S. 35 f.). Gegenstände, die üblicherweise in Form der privaten Vermögensverwaltung gehalten werden, wie etwa vermietete und verpachtete Grundstücke und Gebäude, Minderbeteiligungen an Kapitalgesellschaften oder Wertpapiere, hat der Gesetzgeber grundsätzlich dem steuerschädlichen Verwaltungsvermögen zugeordnet (vgl. BTDrucks 16/7918, S. 35). Hinsichtlich der Rückausnahmen wollte der Gesetzgeber weder eine Einzelfallprüfung vornehmen noch wollte er allgemein Grundstücke dann wieder aus der Steuerschädlichkeit ausnehmen, wenn diese zusammen mit anderen gewerblichen Leistungen einem gewerblichen Betrieb dienen. Was der Gesetzgeber als steuerschädliches Verwaltungsvermögen ansieht, hat er vielmehr in der seit dem 01.07.2016 geltenden Fassung der §§ 13a, 13b ErbStG in dem enumerativen Verwaltungsvermögenskatalog des § 13b Abs. 4 Nr. 1 bis 5 ErbStG geregelt (vgl. BTDrucks 18/8911, S. 41 f.; BFH-Urteil vom 13.09.2023 – II R 49/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 24). Hierbei stand ihm ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG-Urteil vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136, BStBl II 2015, 50, Rz 238 ff. zu Sinn und Zweck der ursprünglichen Regelung des Verwaltungsvermögens im Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24.12.2008, BGBl I 3018).

42

(3) Hinsichtlich der Überlassung von Grundstücksteilen an Dritte hat er von seinem Entscheidungsspielraum dahingehend Gebrauch gemacht, dass er nur die Überlassung von Wohnungen im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs nach § 14 AO (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG), Grundstücksteile zum Absatz von eigenen Erzeugnissen und Produkten im Rahmen von Lieferungsverträgen (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. e ErbStG) und Grundstücksteile zur land- und forstwirtschaftlichen Nutzung (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. f ErbStG) begünstigen wollte. Im Umkehrschluss soll jede andere Überlassung von Grundstücksteilen, wie zum Beispiel Zimmer im Rahmen von Beherbergungsbetrieben (Hotels, Pensionen, Campingplätze), Räume in Gaststätten und auch Parkplätze in Parkhäusern nach der gesetzgeberischen Entscheidung nicht begünstigt sein. Eine verdeckte Regelungslücke liegt daher nicht vor, sodass für eine teleologische Reduktion von § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG kein Raum ist.

43

3. Eine Aussetzung des Verfahrens und eine Einholung einer Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. § 80 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kommt nicht in Betracht. § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 1 und Satz 2 Buchst. b Satz 2 ErbStG sind nach Auffassung des Senats nicht deshalb verfassungswidrig, weil diese Regelungen die kurzfristige Überlassung von Parkplätzen an Parkende als steuerschädliches Verwaltungsvermögen erfassen, während andere Nutzungsüberlassungen von Grundstücken oder Grundstücksteilen nach dem Katalog des § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 ErbStG –unter weiteren Voraussetzungen– zum begünstigten Vermögen zählen.

44

a) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG belässt dem Gesetzgeber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstandes als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Abweichungen von der mit der Wahl des Steuergegenstandes einmal getroffenen Belastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz messen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit Umfang und Ausmaß der Abweichung (vgl. BVerfG-Beschluss vom 23.06.2015 – 1 BvL 13/11, 1 BvL 14/11, BVerfGE 139, 285, BStBl II 2015, 871, Rz 72, m.w.N.).

45

b) Der Gesetzgeber hat diesen ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht deshalb überschritten, weil er die Steuervergünstigungen nach §§ 13a und 13b ErbStG gewährt, wenn die Überlassung von Grundstücksteilen im Rahmen der Vermietung von Wohnungen im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs nach § 14 Satz 1 AO (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. d ErbStG), zum Absatz von eigenen Erzeugnissen und Produkten im Rahmen von Lieferungsverträgen (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. e ErbStG) und zur land- und forstwirtschaftlichen Nutzung (§ 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. f ErbStG) erfolgt.

46

Für alle drei gesetzlich ausdrücklich normierten Rückausnahmen liegen Gründe vor, deren Förderung durch den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt ist. Der Erhalt von bezahlbarem Wohnraum rechtfertigt als besonderer Gemeinwohlgrund eine Rückausnahme für Wohnungsvermietungsunternehmen, deren Hauptzweck in der Vermietung von Wohnungen besteht und dessen Erfüllung einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb erfordert (BTDrucks 18/8911, S. 41). Bei den überlassenen Grundstücksteilen zum Absatz eigener Erzeugnisse ergibt sich die Rechtfertigung zwar entgegen den Ausführungen des Finanzausschusses (BTDrucks 18/8911, S. 41) nicht schon daraus, dass die Überlassung keine typische Vermögensverwaltung darstelle und die Verpachtung Bestandteil der insgesamt originär gewerblichen Tätigkeit des überlassenden Betriebs sei. Denn diese Zielrichtung hat in den Gesetzeswortlaut keinen Eingang gefunden. Hingegen ist es ein vom Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedecktes legitimes Anliegen, aus seiner Sicht förderungswürdige Betriebe in die erbschaftsteuerrechtliche Begünstigung mitaufzunehmen. Dies gilt beispielsweise für den Absatz eigener Erzeugnisse auf eigenen Grundstücken von Brauereien, die er als förderungswürdig ansehen durfte (vgl. BTDrucks 18/8911, S. 41), ebenso wie für die in § 13b Abs. 4 Nr. 1 Satz 2 Buchst. f ErbStG aufgenommene Ausnahme für die Förderung von land- und forstwirtschaftlicher Betriebstätigkeit.

47

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Quelle: Bundesfinanzhof

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BFH zur Begrenzung der rückwirkenden Auszahlung festgesetzten Kindergeldes auf sechs Monate

Der BFH hatte u. a. zu klären, ob es für die Anwendung der Neuregelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder die Entstehung des Kindergeldanspruchs ankommt (Az. III R 27/22).

BFH, Urteil III R 27/22 vom 25.04.2024

Quelle: Bundesfinanzhof

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BFH zur Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte

Bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist die Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 i. d. F. des JStG 2020 nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. So entschied der BFH (Az. VIII B 113/23).

BFH, Beschluss VIII B 113/23 (AdV) vom 07.06.2024

Leitsatz:

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung gebotenen summarischen Prüfung ist die Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2020 vom 21.12.2020 (BGBl I 2020, 3096) nicht mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes vereinbar.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 05.12.2023 – 1 V 1674/23 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

Gründe:

I.

1

Die Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller), die unbeschränkt steuerpflichtig sind und für das Jahr 2021 (Streitjahr) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, wenden sich gegen die Verlustverrechnungsbeschränkung bei Termingeschäften gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2020 vom 21.12.2020 (BGBl I 2020, 3096) –JStG 2020–. Sie halten die Regelung für verfassungswidrig.

2

Der Antragsteller handelte im Streitjahr über einen Broker Differenzkontrakte („Contracts for Difference“ –CFD–). Er erzielte im Streitjahr neben Einkünften aus Kapitalvermögen auch steuerfreie, dem Progressionsvorbehalt unterliegende Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in Luxemburg. In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr erklärten die Antragsteller unter anderem ausländische Kapitalerträge aus Termingeschäften des Antragstellers gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG in Höhe von 250.631 € und Verluste aus Termingeschäften im Sinne dieser Vorschrift in Höhe von 227.289 €.

3

In den Erläuterungen des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 17.04.2023 führte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (Finanzamt –FA–) aus, dass die Verluste aus den Termingeschäften des Antragstellers des Streitjahres in Höhe des gesetzlichen Höchstbetrags von 20.000 € gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG mit den Gewinnen aus Termingeschäften des Streitjahres verrechnet und die noch nicht verrechneten Verluste in Höhe von 207.289 € in der Verlustfeststellung berücksichtigt worden seien. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen des Antragstellers, die dem gesonderten Tarif gemäß § 32d Abs. 1 EStG unterliegen, ermittelte er wie folgt:

Gewinne aus Termingeschäften 250.631 €
Verrechnung laufender Verluste aus Termingeschäften im Sinne des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG ./. 20.000 €
Verrechnung von Verlustvorträgen aus Kapitalvermögen ohne Verluste aus der Veräußerung von Aktien ./. 15.203 €
Sparer-Pauschbetrag ./. 1.602 €
Einkünfte aus Kapitalvermögen 213.826 €
4

Das FA setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr in Höhe von 52.280 € fest. Gegen den Bescheid legten die Antragsteller Einspruch ein und beantragten die Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim FA. Unter Berufung auf den Vorlagebeschluss des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18 (BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562) zu Aktienveräußerungsverlusten und des hierzu beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Verfahrens 2 BvL 3/21 erhoben sie verfassungsrechtliche Einwände gegen die Beschränkung des Verlustausgleichs der Gewinne und Verluste aus den Termingeschäften des Streitjahrs und machten geltend, dass nur der Gesamtgewinn nach Verrechnung der erzielten Gewinne und Verluste aus Termingeschäften in Höhe von 23.342 € der Besteuerung unterworfen werden dürfe. Bei einem wirtschaftlichen Netto-Gewinn aus Termingeschäften in Höhe von 23.342 € müssten sie aufgrund der Gesetzeslage jedoch insgesamt 59.860,60 € an Steuern bezahlen.

5

Das FA lehnte den Antrag auf AdV mit Bescheid vom 11.07.2023 ab. Es wies auch die gegen die Ablehnung der AdV und den Einkommensteuerbescheid des Streitjahrs eingelegten Einsprüche mit Einspruchsentscheidungen vom 31.08.2023 jeweils als unbegründet zurück. Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage und stellten zugleich beim Finanzgericht (FG) einen Antrag auf AdV für den angefochtenen Einkommensteuerbescheid des Streitjahrs.

6

Das FG gab dem AdV-Antrag mit Beschluss vom 05.12.2023 wegen erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken an der Vereinbarkeit der Beschränkung der Verlustverrechnung gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2020 mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) statt. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr sei ernstlich zweifelhaft.

7

Der vom FG zugelassenen Beschwerde des FA hat das FG mit Beschluss vom 13.12.2023 nicht abgeholfen.

8

Das FA macht mit der Beschwerde geltend, dass keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr bestünden, da die Regelung in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG verfassungsmäßig sei. Die Beschränkung des Verlustausgleichs nach § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG beeinträchtige zwar das Leistungsfähigkeitsprinzip, sei aber sachlich gerechtfertigt, denn die Steuerzahlung in Höhe von insgesamt 59.860,60 € könne aus den erwirtschafteten Gewinnen aus Termingeschäften in Höhe von 250.631 € geleistet werden. Die Verlustverrechnungsbeschränkung in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG unterscheide sich wesentlich von der Verlustverrechnungsbeschränkung bei Aktienveräußerungsverlusten in § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG, die Gegenstand des Vorlagebeschlusses des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18 (BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562) gewesen sei. Die dortigen Bedenken des Senats ließen sich nicht auf die Regelung in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG übertragen.

9

Das FA beantragt, den Beschluss des FG Rheinland-Pfalz vom 05.12.2023 – 1 V 1674/23 über die Gewährung der AdV aufzuheben und den Antrag der Antragsteller zurückzuweisen.

10

Die Antragsteller beantragen, die Beschwerde des FA zurückzuweisen.

II.

11

Die nach § 128 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Beschwerde ist unbegründet.

12

Das FG hat den angefochtenen Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu Recht von der Vollziehung ausgesetzt. Bei der im vorläufigen Verfahren gemäß § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen an der Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr ernstliche Zweifel. Der Senat hält die Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2020 bei summarischer Prüfung für nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

13

1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige Härte zur Folge hätte. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, tritt an die Stelle der AdV die Aufhebung der Vollziehung (§ 69 Abs. 2 Satz 7 FGO).

14

Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben den für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 30.03.2021 – V B 63/20 (AdV), BFH/NV 2021, 1212 und vom 08.04.2009 – I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437). Dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe überwiegen, wird dabei nicht vorausgesetzt (vgl. BFH-Beschluss vom 15.04.2020 – IV B 9/20 (AdV), BFH/NV 2020, 919, m.w.N.). Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 22.09.2023 – VIII B 64/22 (AdV), juris, Rz 16; vom 04.07.2019 – VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060, m.w.N.).

15

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das FG die begehrte AdV des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr zu Recht gewährt. Der Senat teilt bei der gebotenen summarischen Prüfung und ausgehend von den bisherigen Sachverhaltsfeststellungen des FG dessen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr.

16

Rechtslage

17

a) Der durch Art. 5 Nr. 1 des Gesetzes zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen vom 21.12.2019 (BGBl I 2019, 2875) geschaffene und durch das Jahressteuergesetz 2020 modifizierte § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG, der auf nach dem 31.12.2020 entstehende Verluste aus Termingeschäften und damit im Streitfall anzuwenden ist (§ 52 Abs. 28 Satz 25 EStG), schafft –vergleichbar dem Verlustverrechnungskreis für Aktienverluste gemäß § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG– neben dem allgemeinen Verlustverrechnungsverbot des § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG einen speziellen Verlustverrechnungskreis für Termingeschäfte, indem Verluste aus Termingeschäften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG nur mit Gewinnen aus Termingeschäften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG und solchen aus Stillhalterprämien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG, nicht aber mit Gewinnen aus anderen Kapitalanlagen ausgeglichen und verrechnet werden dürfen. Darüber hinaus sind der Verlustausgleich und die Verlustverrechnung –anders als bei Aktienverlusten– auch noch der Höhe nach auf jährlich 20.000 € beschränkt.

18

Die Regelung ist nur im Rahmen der Veranlagung der Kapitalerträge anzuwenden, nicht im Rahmen des Steuerabzugs. Verluste aus Termingeschäften dürfen nicht in den Verlustverrechnungstopf für allgemeine Verluste eingestellt werden; dem Steuerpflichtigen ist eine entsprechende Bescheinigung auch ohne Antrag zu erteilen (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen –BMF– vom 11.07.2023, BStBl I 2023, 147, Tz. 118, 229a, 233, als Ergänzung zum BMF-Schreiben vom 19.05.2022, BStBl I 2022, 742).

19

Nicht ausgeglichene Verluste aus Termingeschäften sind in die Folgejahre vorzutragen und dort jeweils in Höhe von 20.000 € mit Gewinnen aus Termingeschäften oder mit Einkünften aus Stillhalterprämien zu verrechnen, wenn nach dem unterjährigen Ausgleich mit Verlusten aus Termingeschäften dieses Jahres ein verrechenbarer Gewinn verbleibt und das Verrechnungsvolumen in Höhe von 20.000 € durch den unterjährigen Verlustausgleich noch nicht verbraucht ist. Verbleiben nach Durchführung des sachlich und betragsmäßigen Verlustausgleichs und der Verlustverrechnung gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG in einem Veranlagungszeitraum positive Kapitalerträge aus Termingeschäften, können diese in diesem Jahr mit sonstigen negativen Kapitalerträgen des Verlustentstehungsjahrs verrechnet werden; sie können zudem mit vorgetragenen Verlusten gemäß § 20 Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 6 Satz 6 EStG und mit vorgetragenen Verlusten gemäß § 20 Abs. 6 Satz 3 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 EStG verrechnet werden (s. im Einzelnen ergänzendes BMF-Schreiben vom 11.07.2023, BStBl I 2023, 1471, Tz. 118; Bleschick in Kirchhof/Seer, EStG, 23. Aufl., § 20 Rz 168; Schmidt/Levedag, EStG, 43. Aufl., § 20 Rz 244, 246).

20

Die dargelegte doppelte Begrenzung des Verlustausgleichs und der Verlustverrechnung führt zu einer zeitlichen Streckung der Verrechnung von Verlusten aus Termingeschäften. Durch die betragsmäßige Begrenzung wirkt § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG schärfer als die Verlustverrechnungsbeschränkung für Verluste aus der Veräußerung von Aktien des § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG. Bei beiden Verlustverrechnungskreisen handelt es sich um „Schedulen innerhalb der Schedule“ der Kapitaleinkünfte (Bleschick in Kirchhof/Seer, EStG, 23. Aufl., § 20 Rz 177a).

21

Entscheidungserheblichkeit/Anwendbarkeit des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG im Streitfall

22

b) Der Kläger hat im Streitjahr Gewinne und Verluste aus Termingeschäften erzielt. Gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG gehört zu den Einkünften aus Kapitalvermögen auch der Gewinn aus Termingeschäften, durch die der Steuerpflichtige einen Differenzausgleich oder einen durch den Wert einer veränderlichen Bezugsgröße bestimmten Geldbetrag oder Vorteil erlangt.

23

aa) § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG erfasst Termingeschäfte, durch die der Steuerpflichtige einen Differenzausgleich erlangt. Nach der Rechtsprechung des BFH folgt der Begriff des Termingeschäfts den Regelungen des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG); Termingeschäfte in diesem Sinne sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 WpHG unter anderem Festgeschäfte oder Optionsgeschäfte, die zeitlich verzögert zu erfüllen sind und deren Wert sich unmittelbar oder mittelbar vom Preis oder Maß eines bestimmten Basiswerts ableitet (BFH-Urteil vom 24.10.2017 – VIII R 35/15, BFHE 259, 540, BStBl II 2018, 189, Rz 13, m.w.N.). Maßgeblich ist insoweit die Zweckbestimmung des Termingeschäfts, die von dem anhand objektiver Umstände nachvollziehbaren Willen der Vertragsbeteiligten abhängt. Erfasst sind demnach Termingeschäfte, die auf die Erzielung eines Differenzausgleichs gerichtet sind, nicht aber Termingeschäfte, die auf die tatsächliche („physische“) Lieferung des Basiswerts am Ende der Laufzeit gerichtet sind (vgl. BFH-Urteil vom 24.10.2017 – VIII R 35/15, BFHE 259, 540, BStBl II 2018, 189, Rz 14, 15, m.w.N. zum Devisentermingeschäft).

24

bb) Auf der Grundlage der bisherigen Sachverhaltsfeststellungen des FG ist es nicht zu beanstanden, dass das FG die vom Antragsteller im Streitjahr über einen Broker gehandelten CFD-Differenzkontrakte als Termingeschäfte im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a EStG angesehen hat. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit. Nach den bisherigen Sachverhaltsfeststellungen des FG folgten aus den CFD-Investitionen ausländische Kapitalerträge aus Termingeschäften des Antragstellers in Höhe von 250.631 € und Verluste des Antragstellers aus Termingeschäften in Höhe von 227.289 €. Auch dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

25

Verfassungsrechtliche Beurteilung

26

c) Der Senat legt seiner Prüfung die folgenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe zugrunde:

27

Anforderungen aus Art. 3 Abs. 1 GG

28

aa) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Zwar ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, die er mit gleichen Rechtsfolgen belegt und damit als „wesentlich gleich“ qualifiziert. Diese Auswahl muss jedoch sachgerecht in Bezug auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche erfolgen (vgl. nur BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, m.w.N.). Dabei ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen aus dem allgemeinen Gleichheitssatz im Sinne eines stufenlosen, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Prüfungsmaßstabs unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (ständige Rechtsprechung, zuletzt BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, m.w.N.).

29

bb) Art. 3 Abs. 1 GG bindet den Steuergesetzgeber an den Grundsatz der Steuergerechtigkeit, der es erfordert, die Besteuerung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auszurichten. Das gilt insbesondere im Einkommensteuerrecht, das auf die Leistungsfähigkeit des jeweiligen Steuerpflichtigen hin angelegt ist. Im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit muss darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Steuerbelastung niedriger Einkommen dem Gerechtigkeitsgebot genügen muss (ständige Rechtsprechung, zuletzt BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, Rz 143, m.w.N.). Abweichungen vom Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht bedürfen nach Art. 3 Abs. 1 GG der Rechtfertigung (BVerfG-Beschluss vom 29.03.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082, Rz 100).

30

aaa) Art. 3 Abs. 1 GG ist jedenfalls dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 05.10.1993 – 1 BvL 34/81, BVerfGE 89, 132 und vom 18.07.2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167, unter C.IV.2. [Rz 126]). Willkür des Gesetzgebers liegt zwar nicht schon dann vor, wenn er unter mehreren Lösungen nicht die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt hat. Es genügt aber Willkür im objektiven Sinn, das heißt die tatsächliche und eindeutige Unangemessenheit der Regelung in Bezug auf den zu ordnenden Gesetzgebungsgegenstand. Der Spielraum des Gesetzgebers endet dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung fehlt (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 05.10.1993 – 1 BvL 34/81, BVerfGE 89, 132, unter B.I. [Rz 39]; vom 29.03.2017 – 2 BvL 6/11, BVerfGE 145, 106, BStBl II 2017, 1082, Rz 101, m.w.N.). Die Anforderungen an Rechtfertigungsgründe für gesetzliche Differenzierungen steigen bis hin zu einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung, insbesondere wenn und soweit sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken kann. Insoweit ist speziell im Steuerrecht dessen Qualität als intensives Eingriffsrecht zu berücksichtigen. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind (vgl. zuletzt BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, Rz 142, m.w.N.).

31

bbb) Bei der Auswahl des Steuergegenstands belässt der Gleichheitssatz dem Gesetzgeber ebenso wie bei der Bestimmung des Steuersatzes zwar einen weitreichenden Entscheidungsspielraum. Unter dem Gebot möglichst gleichmäßiger Belastung der betroffenen Steuerpflichtigen muss die Ausgestaltung des vom Gesetzgeber gewählten steuerrechtlichen Ausgangstatbestands aber folgerichtig im Sinne von belastungsgleich erfolgen (BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, Rz 144, m.w.N.). Zudem bedarf es zur Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen in der Einkommensteuer eines Ausgleichs zwischen den vom ihm erwirtschafteten steuerbaren Einnahmen und den zur Erzielung dieser Einnahmen aufgewendeten Ausgaben. Das damit beschriebene objektive Nettoprinzip ist jedenfalls einfachgesetzlich in § 2 Abs. 2 EStG angelegt (BVerfG-Beschluss vom 12.05.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111, BStBl II 2009, 685, unter B.I.1.c [Rz 28]). Das objektive Nettoprinzip ist jedoch auch im Hinblick auf beschränkende Regelungen zum Verlustausausgleich und Verlustabzug berührt. Es kann zur sachgerechten Bemessung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit vom Zeitabschnitt der Verlustentstehung ausgehend „geöffnet“ werden, indem der Gesetzgeber Verlustrücktrags- oder -vortragsmöglichkeiten schafft (vgl. Vorlagebeschluss des BFH vom 14.10.2015 – I R 20/15, BFHE 252, 44, BStBl II 2017, 1240, Rz 25). Dabei ist eine zeitliche Streckung der Verlustverrechnung verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden (Vorlagebeschluss des BFH vom 26.02.2014 – I R 59/12, BFHE 246, 27, BStBl II 2014, 1016 zur Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung bei Definitiveffekten). Der Kernbereich einer Nettoertragsbesteuerung wird aber verletzt, wenn die Gefahr besteht, dass der Verlustausgleich in der Totalperiode gänzlich ausgeschlossen ist (vgl. auch Vorlagebeschluss des BFH vom 26.02.2014 – I R 59/12, BFHE 246, 27, BStBl II 2014, 1016, Rz 30).

32

ccc) Hat der Gesetzgeber seiner Belastungsentscheidung das objektive Nettoprinzip zugrunde gelegt, bedürfen Ausnahmen von der folgerichtigen Umsetzung eines besonderen, sachlich rechtfertigenden Grunds (BVerfG-Beschluss vom 12.05.2009 – 2 BvL 1/00, BVerfGE 123, 111, BStBl II 2009, 685, unter B.I.1.c [Rz 28]). Der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung ist nicht als besonderer sachlicher Grund in diesem Sinne anzuerkennen (BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, Rz 147, m.w.N.). Als besondere sachliche Gründe kommen unter anderem außerfiskalische Lenkungszwecke oder Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse in Betracht (BVerfG-Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl I 2024, Nr. 47, m.w.N.).

33

Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG

34

d) Ausgehend von den dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben hält der Senat bei der gebotenen summarischen Prüfung § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2020 für nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar (so auch die herrschende Sichtweise im Schrifttum, etwa Bron, Betriebs-Berater —BB– 2020, 535, 536; Buge in Herrmann/Heuer/Raupach –HHR–, § 20 EStG Rz J 20-4; Dahm/Hoffmann, Deutsches Steuerrecht 2020, 81, 83, 84; Dinkelbach/Briesemeister, Der Betrieb —DB– 2020, 579, 582; Drüen, Finanz-Rundschau —FR– 2020, 663, 672; Geberth/Bartelt, DB 2019, 2603, 2605; Jachmann-Michel in Lademann, EStG, § 20 EStG Rz 1618; Jachmann-Michel, juris Die Monatszeitschrift –jM– 2020, 120, 122; Jachmann-Michel, BB 2020, 727, 729; Jochum in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 20 Rz H 68d; Schmidt/Levedag, EStG, 43. Aufl., § 20 Rz 240).

35

§ 20 Abs. 6 Satz 5 EStG bewirkt eine doppelte Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen, die Verluste aus Termingeschäften erzielen. Der besondere Verrechnungskreis für Verluste aus Termingeschäften führt zu einer Ungleichbehandlung von Steuerpflichtigen, je nachdem, ob diese Verluste aus Termingeschäften oder aus anderen Kapitalanlagen erzielt haben (unter II.2.d bb). Innerhalb des besonderen Verrechnungskreises für Verluste aus Termingeschäften kommt es darüber hinaus zu einer Ungleichbehandlung der vom Steuerpflichtigen erzielten Gewinne und Verluste aus Termingeschäften (unter II.2.d cc). Bei summarischer Prüfung ist diese doppelte Ungleichbehandlung sachlich nicht durch ausreichend tragfähige Gründe gerechtfertigt (unter II.2.d dd).

36

aa) In § 20 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG hat der Gesetzgeber die Grundentscheidung getroffen, dass negative Kapitalerträge zwar nicht mit positiven Einkünften anderer Einkunftsarten ausgeglichen werden dürfen, aber innerhalb der Schedule positive und negative Kapitalerträge ausgeglichen und miteinander verrechnet werden können. Während eine Verlustverrechnungsbeschränkung für negative Kapitalerträge, die dem gesonderten Tarif (§ 32d Abs. 1 EStG) unterliegen, folgerichtig ist, gilt dies nicht für spezielle Verlustverrechnungskreise innerhalb der Schedule für dem gesonderten Tarif unterliegende positive und negative Kapitalerträge. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die Besteuerung der Kapitaleinkünfte mit einer abgeltenden Besteuerung der Kapitalerträge anderen Regelungen zu unterwerfen als bei den anderen Einkunftsarten, um hierdurch den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung tragen zu können, entbindet ihn nicht von der Verpflichtung, die Besteuerung innerhalb der Schedule der Kapitaleinkünfte folgerichtig, das heißt gleichheitsgerecht auszugestalten (BFH-Vorlagebeschluss vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562, Rz 51). Diese Verpflichtung beinhaltet auch, positive und negative Kapitalerträge innerhalb der Schedule folgerichtig zu besteuern (vgl. Jachmann-Michel in Lademann, EStG, § 20 EStG Rz 1618; Jachmann-Michel, jM 2020, 120, 122; Jachmann-Michel, BB 2020, 727, 729).

37

Der Senat vermag in der Einführung des weiteren Verlustverrechnungskreises in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG keinen Systemwechsel des Gesetzgebers weg von dem nach wie vor in § 20 Abs. 6 Satz 2 EStG geregelten Grundprinzip der Gleichbehandlung positiver und negativer Kapitalerträge innerhalb der nach dem gesonderten Tarif zu besteuernden Kapitalerträge zu erkennen.

38

Jeder der gesonderten Verlustverrechnungskreise ist danach für sich betrachtet an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Aus dem Vorhandensein mehrerer Verlustverrechnungskreise innerhalb der Schedule der Kapitaleinkünfte lässt sich auch nicht ableiten, dass für die einzelnen Verlustverrechnungskreise geringere Anforderungen für die folgerichtige Ausgestaltung des Gesetzes und für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu stellen sind, als vom Senat im Vorlagebeschluss vom 17.11.2020 – VIII R 11/18 (BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562) zur Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste dargelegt wurden.

39

bb) Steuerpflichtige, die Verluste aus Termingeschäften erzielt haben, werden durch § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG gegenüber Steuerpflichtigen mit Verlusten aus anderen Kapitalanlagen daher insoweit ungleich behandelt, als die Verluste aus Termingeschäften nur mit Gewinnen aus Termingeschäften gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG und solchen aus Stillhalterprämien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG, nicht aber mit Gewinnen aus anderen Kapitalanlagen ausgeglichen und verrechnet werden können. Es bedarf nach den unter II.2.c bb und unter II.2.d aa dargelegten Grundsätzen einer tragfähigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung.

40

cc) Die Ungleichbehandlung negativer Kapitalerträge aus Termingeschäften gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG wird dadurch verschärft, dass die Vorschrift entgegen den Vorgaben des objektiven Nettoprinzips zu einer asymmetrischen Besteuerung von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften auch innerhalb des Verlustverrechnungskreis führt (unter II.2.d cc aaa). Diese Asymmetrie bewirkt, dass in einem Verlustentstehungsjahr wirtschaftlich nicht erzielte Gewinne aus Termingeschäften besteuert werden können, sofern die Differenz von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften den Betrag von 20.000 € im Verlustentstehungsjahr übersteigt (unter II.2.d cc bbb). Schließlich kann nicht im Wege einer typisierenden Betrachtung von einem vollständigen Ausgleich von Verlusten aus Termingeschäften in der Totalperiode ausgegangen werden (unter II.2.d cc ccc).

41

aaa) Während § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG eine Verrechnung von Verlusten und Gewinnen innerhalb artgleicher Aktienveräußerungsgeschäfte im Verlustentstehungsjahr unbegrenzt zulässt, wird die Verlustverrechnung durch § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG innerhalb der artgleichen Termingeschäfte betragsmäßig eingeschränkt. Verluste aus Termingeschäften, denen (artgleiche) Gewinne aus Termingeschäften gegenüberstehen, werden im Verlustentstehungsjahr hingegen oberhalb der Verlustverrechnungsgrenze von 20.000 € vom Verlustausgleich ausgeschlossen, während verbleibende Gewinne aus Termingeschäften –vorbehaltlich der Verrechnung mit sonstigen Verlusten aus Kapitalvermögen– vollumfänglich der Besteuerung unterworfen werden. Diese asymmetrische Besteuerung von Gewinnen und Verlusten aus Termingeschäften widerspricht dem objektiven Nettoprinzip, dessen Ausfluss es gerade ist, dass Gewinne und Verluste steuerlich gleich behandelt werden (HHR/Buge, EStG, § 20 EStG Rz J 20-4; vgl. auch Jachmann-Michel, jM 2020, 120, 122).

42

Die Regelung widerstreitet auch den grundsätzlichen Einkünfteermittlungsregeln für Kapitalerträge, die unter den gesonderten Tarif gemäß § 32d Abs. 1 EStG fallen. Die Beschränkung des Verlustausgleichs innerhalb der artgleichen Termingeschäfte, soweit die Verluste 20.000 € übersteigen, steht im Gegensatz zum Grundprinzip, dass andere Kapitalerträge erst nach dem Verlustausgleich in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen sind (s. § 20 Abs. 6 Satz 2 EStG).

43

Da § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG im Rahmen des Steuerabzugs nicht anzuwenden ist, werden nur positive Kapitalerträge aus Termingeschäften dem Steuerabzug unterworfen (§ 43 Abs. 1 Nr. 11 EStG). Negative Kapitalerträge aus Termingeschäften wirken sich im Rahmen des Steuerabzugs bis zum Betrag von 20.000 € nicht aus. Sie werden zwar vom Steuerentrichtungspflichtigen unaufgefordert bescheinigt (vgl. ergänzendes BMF-Schreiben vom 11.07.2023, BStBl I 2023, 1471, Tz. 118, 229a, 233), der Steuerpflichtige muss jedoch stets einen Antrag gemäß § 32d Abs. 2 Nr. 4 EStG stellen und die Verluste veranlagen lassen, um deren Verrechnung in Höhe von 20.000 € und den Verlustvortrag gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 3 i.V.m. § 10d Abs. 4 EStG sicherzustellen. Auch hierin liegt eine Schlechterstellung der Gewinne und Verluste aus Termingeschäften gegenüber anderen Kapitalerträgen, die bereits im Rahmen des Steuerabzugs ausgeglichen werden können.

44

bbb) § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG bewirkt bei einem Sachverhalt wie im Streitfall, bei dem Gewinne aus Termingeschäften und den Betrag von 20.000 € übersteigende Verluste aus Termingeschäften vorliegen, darüber hinaus, dass im Verlustentstehungsjahr Gewinne aus Termingeschäften besteuert werden, die der Steuerpflichtige wirtschaftlich nicht erzielt hat. Dies führt zu einer Nachschusspflicht des Steuerpflichtigen aus anderen Einkünften oder versteuertem Vermögen, wenn die anfallende Einkommensteuer nicht aus den durch Termingeschäfte erwirtschafteten Einnahmen entrichtet werden kann (vgl. auch Drüen, FR 2020, 663, 672). So übersteigt im Streitfall die auf die Einnahmen aus Termingeschäften anfallende Einkommensteuer (213.826 € * 25 % = 53.456 €) den wirtschaftlichen Gesamtgewinn aus den Termingeschäften des Streitjahrs (23.342 €).

45

ccc) § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG kann zudem einen vollständigen Ausschluss des Ausgleichs von Verlusten aus Termingeschäften oberhalb eines Betrags von 20.000 € in der Totalperiode begünstigen.

46

(1) Die doppelte Begrenzung des Verlustausgleichs und der Verlustverrechnung führt zu einer zeitlichen Streckung der Verrechnung von Verlusten aus Termingeschäften. Die Grundkonzeption einer zeitlichen Streckung der Verlustverrechnung ist verfassungsrechtlich nur dann nicht zu beanstanden, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Verlustausgleich in der Totalperiode gänzlich ausgeschlossen ist (vgl. hierzu unter II.2.c bb bbb). Hiervon ist bei § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG aber gerade nicht auszugehen.

47

(2) Ebenso wie bei der Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562, Rz 47) kann bei der Verlustverrechnungsbeschränkung für Termingeschäfte in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG nicht wie bei einer einkünfteübergreifenden Verlustverrechnungsbeschränkung im Wege typisierender Betrachtung davon ausgegangen werden, dass Verluste aus Termingeschäften in der Totalperiode vollständig ausgeglichen werden, so dass dem Steuerpflichtigen die ganze oder teilweise Nichtberücksichtigung des Verlustes droht. Da ein Verlustrücktrag nicht möglich ist, besteht bereits zu Lebzeiten des Steuerpflichtigen die typische Gefahr einer weitgehenden Nichtverrechenbarkeit, wenn nach der Realisation eines Verlustes aus Termingeschäften keine gleichartigen Gewinne nachfolgen. Es müssen vielmehr erst wieder neue Gewinne aus Termingeschäften oder Stillhalterprämien erzielt werden, um im Wege des Verlustvortrags eine Verrechnung mit entstandenen Verlusten zu erreichen. Vom Erblasser nicht genutzte Verlustvorträge gemäß § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG, die gemäß § 20 Abs. 6 Satz 2 und 3 i.V.m. § 10d Abs. 4 EStG in der Vergangenheit festgestellt wurden, können auch vom Rechtsnachfolger nicht im Rahmen seiner eigenen Veranlagung zur Einkommensteuer geltend gemacht werden (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 17.12.2007 – GrS 2/04, BFHE 220, 129, BStBl II 2008, 608; s.a. Vorlagebeschluss des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562, Rz 48).

48

(3) Die jährliche Betragsgrenze von 20.000 € verschärft diesen Effekt. Sie begünstigt bei hohen Verlusten die Gefahr eines endgültigen Verlustuntergangs. Ein Steuerpflichtiger müsste beispielsweise zur Verrechnung eines Verlustes aus einem Termingeschäft in Höhe von 1 Mio. € noch weitere 50 Jahre leben und in jedem dieser 50 Jahre hinreichende Gewinne aus Termingeschäften und Stillhalterprämien erzielen, um eine vollständige Verlustverrechnung zu erreichen; würde er in den Folgejahren auch jeweils Verluste aus Termingeschäften erzielen, würde sich die Verrechnung der Verluste entsprechend verlängern. Auch im Streitfall bräuchte der Antragsteller für die Verrechnung des gesondert festgestellten Verlustes in Höhe von 207.289 € über zehn Jahre, um die Verluste auszugleichen, vorausgesetzt, er würde in den Folgejahren jedes Jahr positive Einkünfte aus Termingeschäften und Stillhalterprämien in Höhe von mindestens 20.000 € und keine weiteren ausgleichsfähigen Verluste aus Kapitalvermögen erzielen. Hinzu kommt, dass dann, wenn der Steuerpflichtige im Folgejahr der Verlustentstehung weitere Termingeschäfte tätigt und hieraus Verluste erzielt, diese neuen Verluste vorrangig mit aktuellen Gewinnen aus Termingeschäften und solchen aus Stillhalterprämien gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG dieses Jahres bis zur absoluten Verlustverrechnungsgrenze von 20.000 € auszugleichen sind. In Fällen wie im Streitfall ist deshalb nicht nur eine sofortige vollständige Berücksichtigung ausgeschlossen, sondern die Verlustberücksichtigung kann endgültig unmöglich sein (vgl. auch Drüen, FR 2020, 663, 670).

49

dd) Der Senat sieht bei der gebotenen, aber ausreichenden summarischen Prüfung keine tragfähigen sachlichen Rechtfertigungsgründe für die dargelegten Ungleichbehandlungen.

50

aaa) Es liegen aus Sicht des Senats hinreichende Gründe für eine strengere, am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Prüfung der gesetzgeberischen Differenzierung vor. § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG kann sich, ebenso wie § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562, Rz 52) auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten auswirken. Die vom Grundrecht der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Entscheidung, zwischen verschiedenen Kapitalanlageobjekten und -formen frei auszuwählen, wird zumindest mittelbar dadurch beeinträchtigt, dass der Steuerpflichtige gedrängt wird, wenn er seine Verluste ausgleichen will, wieder in bislang schon nicht erfolgreiche Termingeschäfte zu investieren. Er wird von der durch § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG bewirkten Verluststreckung deshalb dazu angehalten, seine Investition in Termingeschäfte auch dann nicht zu beenden, wenn die eingetretene Verlustsituation ihn ansonsten zum Ausstieg aus diesem Anlagesegment motivieren würde (vgl. Vorlagebeschluss des Senats vom 17.11.2020 – VIII R 11/18, BFHE 271, 399, BStBl II 2021, 562, Rz 52).

51

bbb) Die Verlustausgleichs- und -verrechnungsbeschränkung hält aber auch einer Prüfung am Maßstab des Willkürverbots nicht stand. Es fehlt ein sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung zwischen solchen Steuerpflichtigen, die Verluste aus Termingeschäften erzielen, und solchen mit Verlusten aus anderen Kapitalanlagen.

52

(1) Nach der Gesetzesbegründung sollen Verluste aus Termingeschäften in einem besonderen Verlustverrechnungskreis berücksichtigt werden, um das Investitionsvolumen und die daraus für Anleger entstehenden Verlustrisiken aus diesen spekulativen Anlagen zu begrenzen (BTDrucks 19/15876, S. 61). Termingeschäfte seien, so die Gesetzesbegründung, durch ihre begrenzte Laufzeit und durch Hebeleffekte in wesentlichem Umfang spekulativ. Es könnten einerseits hohe Gewinne und andererseits der Totalverlust der Anlage eintreten. Diese Effekte würden bei anderen Kapitalanlagen nicht in vergleichbarem Ausmaß auftreten.

53

(2) Dieser Gesichtspunkt trägt auch unter Berücksichtigung eines weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums die dargelegten Ungleichbehandlungen nicht. § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG ist nicht geeignet, die für Anleger bestehenden Verlustrisiken zu begrenzen. Der Steuerpflichtige wird durch die Verluststreckung im Gegenteil dazu angehalten, weiterhin in Termingeschäfte zu investieren, um die entstandenen Verluste mit künftigen Gewinnen verrechnen zu können (vgl. unter II.2.d dd aaa).

54

(3) Die Einschränkung der Verlustverrechnung erhöht zudem die aus wirtschaftlicher Sicht nachteiligen Folgen für den Steuerpflichtigen, da er die Möglichkeit verliert, seine Verluste aus Termingeschäften steuerlich geltend zu machen und sie damit zum Teil wirtschaftlich auszugleichen (Drüen, FR 2020, 663, 670). Für die im Streitfall zu beurteilende Situation, dass der Antragsteller Gewinne und Verluste aus Termingeschäften in demselben Jahr erzielt und die Gewinne die Verluste sowie Letztere den Betrag von 20.000 € übersteigen, bewirkt § 20 Abs. 6 Satz 5 Halbsatz 1 EStG, wie dargestellt, dass der Antragsteller einen wirtschaftlichen „Scheingewinn“ versteuern muss. Dies legt zumindest nahe, dass der Gesetzgeber weniger den Anleger davor schützen wollte, zu hohe Verlustrisiken einzugehen, als den Fiskus vielmehr vor den Risiken für das Steueraufkommen, die aber weder beziffert noch inhaltlich konkretisiert werden (Drüen, FR 2020, 663, 669; Jachmann-Michel, jM 2020, 120, 122). Ein solches fiskalisches Ziel kann die Beschränkung des Verlustausgleichs mit den dargelegten Folgen für den Steuerpflichtigen nicht rechtfertigen (so auch Drüen, FR 2020, 663, 669).

55

(4) Auch ein etwaiger Abschreckungscharakter für die Durchführung von Termingeschäften, den die Regelung in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG aufgrund der dargelegten gravierenden Folgen für den Steuerpflichtigen bei einem hohen Verlust beinhaltet, stellt aus der Sicht des Senats keinen tragfähigen Rechtfertigungsgrund dar. Entgegen der Annahme in der Gesetzesbegründung (BTDrucks 19/15876, S. 61) sind Termingeschäfte im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht in jedem Fall hochspekulative Anlagen, sondern dienen regelmäßig als Absicherungsgeschäfte, etwa zur Absicherung von Kurs-, Währungs- oder Zinsrisiken, und entfalten als solche risikomindernde Wirkung (Drüen, FR 2020, 663, 666; Dinkelbach/Briesemeister, DB 2020, 579, 58; Bron, BB 2020, 535, 536).

56

(5) Weitere Rechtfertigungsgründe werden in der Gesetzesbegründung zu § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG nicht angesprochen. Sie sind auch sonst nicht ersichtlich.

57

e) Ob und inwieweit § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG bei der gebotenen summarischen Prüfung auch mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 GG unvereinbar ist, weil die Entscheidung des Steuerpflichtigen, zwischen verschiedenen Kapitalanlageobjekten und -formen frei auszuwählen, zumindest mittelbar dadurch beeinträchtigt wird, dass der Steuerpflichtige gedrängt wird, wieder in bislang schon nicht erfolgreiche Termingeschäfte zu investieren (vgl. hierzu unter II.2.d dd aaa), lässt der Senat offen.

58

Berechtigtes Interesse der Antragsteller

59

3. Das FG hat zu Recht auch ein berechtigtes Interesse der Antragsteller an der AdV des angefochtenen Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr bejaht. Dabei kann offenbleiben, ob es in den Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm beruhen, eines besonderen Aussetzungsinteresses bedarf (vgl. zum Streitstand BFH-Beschluss vom 23.05.2022 – V B 4/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1030, Rz 22 f., m.w.N.; vgl. auch BVerfG-Beschlüsse vom 24.10.2011 – 1 BvR 1848/11, 1 BvR 2162/11, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR– 2012, 89, Rz 4 und vom 06.05.2013 – 1 BvR 821/13, HFR 2013, 639, Rz 7). Jedenfalls im Streitfall fällt die Interessenabwägung zugunsten der Antragsteller aus. Bei dieser Abwägung hat sich der Senat davon leiten lassen, dass die Bedenken bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2020 von hinreichendem Gewicht sind und die Anwendung der Vorschrift im Streitfall für die Antragsteller Auswirkungen von erheblichem Gewicht hat, da sie dazu führt, dass die Antragsteller auf einen wirtschaftlich im Streitjahr erzielten Gesamtgewinn aus Termingeschäften in Höhe von 23.342 € Einkommensteuer in Höhe von 53.456 € zahlen müssen. Außerdem ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, dass die Gewährung der AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte. Angesichts dessen ist dem Interesse der Antragsteller an einer AdV des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr Vorrang zu geben.

60

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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BFH zu „in camera“-Verfahren (§ 86 Abs. 1 FGO) bei Umsatzsteuersatzermäßigung

Bei einer Konkurrentenklage gegen die Steuersatzermäßigung der Umsätze eines gemeinnützigen Steuerpflichtigen sind Akten nach § 86 Abs. 1 FGO nur insoweit vorzulegen, als § 12 Abs. 2 Nr. 8a UStG eine drittschützende Wirkung zukommt. So entschied der BFH (Az. V S 15/22).

BFH, Beschluss V S 15/22 vom 29.05.2024

Leitsatz:

  1. Der bei einer Konkurrentenklage beigeladene Steuerpflichtige ist Dritter im Sinne des § 86 Abs. 1 FGO, wobei die Offenbarung durch das Steuergeheimnis geschützter Daten im Rahmen von § 30 Abs. 4 Nr. 1 der Abgabenordnung zulässig ist, wenn dabei das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird.
  2. Bei einer Konkurrentenklage gegen die Steuersatzermäßigung der Umsätze eines gemeinnützigen Steuerpflichtigen sind Akten nach § 86 Abs. 1 FGO nur insoweit vorzulegen, als § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes eine drittschützende Wirkung –wie etwa in Bezug auf das Vorliegen eines Zweckbetriebs oder die in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen– zukommt.

Tenor:

Es wird festgestellt, dass die Weigerung des Beklagten, weitere Aktenbestandteile vorzulegen, insoweit rechtswidrig ist, als aus den Unterlagen, die das beigeladene Finanzministerium dem Senat übersandt hat, die nachfolgend aufgeführten, vom Finanzgericht angeforderten Unterlagen dem Finanzgericht zu übersenden sind, wobei die Unterlagen im nachfolgend bezeichneten Umfang zu schwärzen sind.

Im Übrigen ist der Antrag der Klägerin unbegründet.

Aus der Akte XXX sind XXX zu übersenden, wobei folgende Schwärzungen vorzunehmen sind: XXX

Gründe:

I.

1

Im Rahmen einer Konkurrentenklage ist streitig, ob die Beigeladene zu 1. für ihre Umsätze im Jahr 2013 (Streitjahr) zu Recht den ermäßigten Umsatzsteuersatz für Leistungen, die im Rahmen eines von ihr angenommenen Zweckbetriebs gemeinnütziger Körperschaften ausgeführt werden, angewendet hat. Die Klägerin und Antragstellerin (Klägerin) macht dabei geltend, der Beklagte und Antragsgegner (Finanzamt –FA–) sei verpflichtet, dem Finanzgericht (FG) die von diesem angeforderten Teile der Steuerakten der Beigeladenen zu 1. vorzulegen.

2

Die Klägerin erbrachte im Streitjahr Wäscherei-Dienstleistungen aller Art, darunter auch spezifische Dienstleistungen gegenüber Großkunden (vor allem an Krankenhäuser, Reha-Kliniken und Altenheime).

3

Zweck der Beigeladenen zu 1. war nach ihrem Gesellschaftsvertrag die … Hilfe für behinderte Menschen … Gesellschaftsvertraglich sollte dieser Zweck insbesondere … durch … Angebote für die in § 53 der Abgabenordnung (AO) genannten Personen innerhalb eines Integrationsprojekts gemäß § 132 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch in der im Streitjahr geltenden Fassung (SGB IX a.F.; heute gleichlautend zum Inklusionsbetrieb § 215 Abs. 1 SGB IX) … verwirklicht werden. Die Beigeladene zu 1. betrieb im Rahmen dieses Integrationsprojektes eine Wäscherei, die umfängliche textile Dienstleistungen mit Spezialisierung auf den Gesundheitssektor erbrachte.

4

Die Klägerin beantragte am 17.05.2013 beim FA, die Umsätze der Beigeladenen zu 1. im Voranmeldungszeitraum Januar 2013 nicht mit dem ermäßigten Steuersatz für Zweckbetriebe (§ 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres –UStG–), sondern mit dem allgemeinen Steuersatz zu besteuern. Das FA lehnte den Antrag am 07.03.2014 als unzulässig ab. Den dagegen gerichteten Einspruch vom 09.04.2014 in Form einer Sprungklage, der das FA nicht zugestimmt hatte, wies das FA –nach der im September 2014 erfolgten Hinzuziehung der Beigeladenen zu 1.– mit Einspruchsentscheidung vom 20.06.2016 als unbegründet zurück.

5

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage vor dem FG begehrt die Klägerin weiterhin, die Umsätze der Beigeladenen zu 1. dem allgemeinen Steuersatz zu unterwerfen. Dabei erklärte die Klägerin „klarstellend“, die Klage richte sich gegen die Jahresfestsetzung 2013. Das FG hat die Beigeladene zu 1. nach § 60 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beigeladen.

6

Im Rahmen der Konkurrentenklage streiten die Beteiligten über den Umfang der Aktenvorlage durch das FA. In seiner Klageerwiderung machte das FA geltend, die Klägerin habe ihre Klagebefugnis nicht substantiiert dargelegt. Ihrem Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass sie durch eine rechtswidrig zu geringe Besteuerung der Beigeladenen zu 1. in ihrem Recht auf Teilnahme an einem steuerrechtlich nicht (rechtswidrig) zu ihrem Nachteil verfälschten Wettbewerb beeinträchtigt sei. In dieser Konstellation müsse das FA für die Wahrung des Steuergeheimnisses sorgen und daher sicherstellen, dass die Klägerin nicht über ihr Akteneinsichtsrecht Kenntnis von Vorgängen der Beigeladenen zu 1. erhalte, die dem Steuergeheimnis unterlägen. Die Übersendung von Akten sei daher auf die nicht dem Steuergeheimnis unterfallenden Vorgänge aus dem Vorverfahren beschränkt.

7

Hierauf forderte das FG das FA auf, umgehend die Verwaltungsvorgänge zu übersenden, die das Verwaltungs- und Einspruchsverfahren für den streitgegenständlichen Antrag betreffen. Dem kam das FA insoweit nach, als es „die nicht dem Steuergeheimnis unterliegenden Verwaltungsvorgänge betreffend den streitbefangenen Konkurrentenantrag einschließlich des vorangegangenen Konkurrentenauskunftsverfahrens“ an das FG übersandte. Die Klägerin nahm Einsicht in die übersandten Akten und beanstandete danach, dass die Verfahrensakten unvollständig seien. Hierauf übersandte das FA zwar weitere Teile der Akten, hielt aber an seiner Ansicht fest, dass eine darüber hinausgehende Aktenübersendung im Hinblick auf das Steuergeheimnis unzulässig sei. Sämtliche weiteren Schriftstücke enthielten Verhältnisse der Beigeladenen zu 1. oder Dritter, die durch das Steuergeheimnis geschützt seien. Die Klägerin beanstandete wiederum die ihrer Ansicht nach rechtswidrige Zurückbehaltung von Aktenbestandteilen und beantragte erneut beim FG, alle bisher enthefteten und vorgehaltenen Unterlagen der Verfahrensakte vom FA anzufordern, insbesondere die in ihrem Schriftsatz im Einzelnen bezeichneten Aktenseiten.

8

Im Anschluss an den Senatsbeschluss vom 16.12.2021 – V S 16/20, mit dem der Senat einen nach § 86 Abs. 3 FGO gestellten Feststellungsantrag als unzulässig ansah, forderte das FG mit dem streitgegenständlichen Beschluss das FA letztlich auf, die vollständigen Umsatzsteuerakten der Beigeladenen zu 1. für den Besteuerungszeitraum 2013 sowie alle zu den vom FA geführten sonstigen Steuerakten der Beigeladenen zu 1. gelangten Unterlagen, die die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG im Streitjahr betreffen, vorzulegen. Die Klägerin habe ihre Klagebefugnis substantiiert dargelegt. Die Vorlage der angeforderten Akten sei entscheidungserheblich, da es darauf ankomme, „ob der Umsatzsteuerjahresbescheid 2013 den Umsatzsteuervorauszahlungsbescheid für Januar 2013 gem. § 365 Abs. 3 Satz 1 AO ersetzt hat, ob der Umsatzsteuerjahresbescheid 2013 unter dem Gesichtspunkt der Festsetzungsfrist abänderbar ist, ob die Voraussetzungen für eine Änderung nach den Vorschriften der AO vorliegen und schließlich –wenn es darauf ankommt– ob die Voraussetzungen für die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf die Umsätze der Beigeladenen [zu 1.] gegeben sind“.

9

Das FA lehnte die Vorlage weiterer Aktenbestandteile unter Berufung auf das Steuergeheimnis ab. Nachfolgend wies das FG die Beteiligten darauf hin, es bestehe weiterhin aus den Gründen seines streitgegenständlichen Beschlusses auf der Vorlage der angeforderten Aktenteile.

10

Die Klägerin beantragte beim FG, gemäß § 86 Abs. 3 FGO vom Bundesfinanzhof (BFH) feststellen zu lassen, dass die Weigerung des FA, weitere Aktenbestandteile vorzulegen, rechtswidrig ist. Der Antrag sei zulässig und begründet. Die Weigerung des FA, die zurückbehaltenen Aktenbestandteile vorzulegen, sei rechtswidrig, da der geltend gemachte Weigerungsgrund (Schutz des Steuergeheimnisses) nicht vorläge. Die Beigeladene zu 1. sei kein „Dritter“ im Sinne des § 86 Abs. 1 FGO, sondern Beteiligte des Verfahrens, so dass der vorgetragene Weigerungsgrund nicht eingreifen könne. Es sei auch nicht erkennbar, dass der zurückbehaltene Aktenbestand in keinem Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren stünde. Die Aktenübersendung stelle auch keine „unbefugte“ Offenbarung geschützter Verhältnisse Dritter dar, weil die Mitteilung steuerrechtlicher Verhältnisse eines anderen in einem Konkurrentenstreit nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO zulässig sei.

11

Die Klägerin beantragt sinngemäß, im Hinblick auf die vom FG angeforderten Akten festzustellen, dass die Weigerung des FA vom 11.08.2022, weitere Aktenbestandteile vorzulegen, rechtswidrig ist.

12

Das FA hat sich im vorliegenden Verfahren nach § 86 Abs. 3 FGO nicht geäußert.

13

Die Beigeladene zu 1. ist der Ansicht, das FA verweigere zu Recht die weitere Aktenvorlage. Sie sei „Dritter“ im Sinne des § 86 Abs. 1 FGO, da Verhältnisse betroffen seien, die in keiner Beziehung zum finanzgerichtlichen Verfahren stünden. Ihr Interesse an der Geheimhaltung überwiege das schutzwürdige Interesse der Klägerin, da die angeforderten Aktenbestandteile für die Entscheidung nicht erforderlich seien und die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe, insbesondere offensichtlich unzulässig sei.

14

Das vom beschließenden Senat mit Beschluss vom 15.11.2023 – V S 15/22 beigeladene Finanzministerium hat als oberste Aufsichtsbehörde des FA dem BFH Akten übersandt.

II.

15

Der Feststellungsantrag der Klägerin, der aus den im Beiladungsbeschluss des Senats vom 15.11.2023 – V S 15/22 genannten Gründen zulässig ist, ist teilweise begründet. Die Weigerung des FA, weitere Unterlagen aus den Steuerakten der Beigeladenen zu 1. vorzulegen, ist im Umfang der nach dem Tenor zu übersendenden Unterlagen rechtswidrig. Im Streitfall bezieht sich das Verlangen des FG, bestimmte Unterlagen aus den Steuerakten der Beigeladenen zu 1. im Rahmen der Konkurrentenklage vorzulegen, auf diese –im Tenor bezeichneten– Unterlagen, die für die Prüfung von verfahrensrechtlichen Änderungsnormen und von Vorschriften mit drittschützendem Charakter von Bedeutung sind. Soweit die im Tenor bezeichneten Unterlagen durch das Steuergeheimnis geschützte Verhältnisse der Beigeladenen zu 1. enthalten, sind diese Unterlagen im Umfang des Tenors zu schwärzen, so dass der Antrag der Klägerin insoweit unbegründet ist.

16

1. Nach § 86 Abs. 1 FGO besteht die Verpflichtung zur Vorlage von Urkunden und Akten und zur Erteilung von Auskünften, soweit nicht durch das Steuergeheimnis (§ 30 AO) geschützte Verhältnisse Dritter unbefugt offenbart werden. Auf Antrag eines Beteiligten stellt der BFH in den Fällen des § 86 Abs. 1 und 2 FGO gemäß § 86 Abs. 3 Satz 1 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss fest, ob die hier vorliegende Verweigerung der Vorlage der Urkunden und Akten rechtmäßig ist. Das nach § 86 Abs. 3 Satz 4 FGO beigeladene Finanzministerium hat als oberste Aufsichtsbehörde auf Aufforderung des Senats gemäß § 86 Abs. 3 Satz 3 FGO Dokumente und Akten vorgelegt.

17

2. Der bei einer Konkurrentenklage beigeladene Steuerpflichtige ist Dritter im Sinne des § 86 Abs. 1 FGO, wobei die Offenbarung durch das Steuergeheimnis geschützter Daten im Rahmen von § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO zulässig und damit befugt ist, wenn dabei das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird.

18

a) Nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO ist die Offenbarung durch das Steuergeheimnis (§ 30 Abs. 1 AO) geschützter Daten unter anderem zulässig, soweit sie der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen dient. Danach ist auch die Offenbarung geschützter Daten eines Beigeladenen bei einer Konkurrentenklage eines Dritten (hier der Klägerin) gegen die Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung eines beigeladenen Steuerpflichtigen (hier der Beigeladenen zu 1.) zulässig (BFH-Urteil vom 15.10.1997 – I R 10/92, BFHE 184, 212, BStBl II 1998, 63, unter II.B.4.d). Das nach Maßgabe von § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO bei einer Konkurrentenklage zugunsten des Steuerpflichtigen gewährleistete Schutzniveau ist dabei auch im Verfahren nach § 86 FGO –und zwar bereits im Rahmen von § 86 Abs. 1 FGO und nicht erst bei Anwendung von § 86 Abs. 2 FGO– zu beachten. Denn hierdurch wird gewährleistet, dass das Steuergeheimnis auch vorliegend nur im Umfang eines unmittelbaren funktionalen Zusammenhangs zwischen Offenbarung und Verfahrensdurchführung, der aus dem Dienen im Sinne von § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO abzuleiten ist, durchbrochen wird (so bereits BFH-Urteil vom 10.02.1987 – VII R 77/84, BFHE 149, 387, BStBl II 1987, 545, unter B.II.1. und dem folgend BFH-Beschluss vom 07.07.2008 – II B 9/07, BFH/NV 2008, 1811, unter II.1.a sowie BFH-Urteil vom 23.01.2020 – III R 9/18, BFHE 268, 112, BStBl II 2020, 436, Rz 31), wobei die Offenbarung geschützter Daten zudem verhältnismäßig sein muss (BFH-Beschluss vom 07.07.2008 – II B 9/07, BFH/NV 2008, 1811, unter II.1.a und BFH-Urteil vom 23.01.2020 – III R 9/18, BFHE 268, 112, BStBl II 2020, 436, Rz 31).

19

Ist somit auch der zur Konkurrentenklage beigeladene Steuerpflichtige als Dritter im Sinne von § 86 Abs. 1 FGO anzusehen, kommt es nicht in Betracht, den Schutz des § 30 AO nur denjenigen Personen zuzubilligen, bei denen es sich nicht um die Beteiligten nach § 57 FGO handelt. Daher könnte sich der Senat einer demgegenüber vertretenen Auffassung nicht anschließen, nach der die am Verfahren gemäß § 57 FGO Beteiligten nicht als Dritte im Sinne von § 86 Abs. 1 FGO anzusehen sind und ein Schutz des Steuergeheimnisses zugunsten des Dritten nur dann in Betracht kommt, wenn es sich –unabhängig von einem unmittelbaren funktionalen Zusammenhang– lediglich um steuerrechtliche Verhältnisse handelt, die in keiner Beziehung zum Gegenstand des Rechtsstreits stehen (FG Hamburg, Beschluss vom 04.12.1975 – III 106/74, Entscheidungen der Finanzgerichte 1976, 301 und ebenso Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 86 FGO Rz 33; Krumm in Tipke/Kruse, § 86 FGO Rz 8), falls sich hieraus –für den dort allerdings nicht angesprochenen Fall der Konkurrentenklage– Abweichendes ergeben sollte.

20

b) Unerheblich ist, dass der in § 86 Abs. 1 FGO verwendete Begriff der „Verhältnisse Dritter“ insoweit von § 30 Abs. 2 AO abweicht, als § 30 Abs. 2 AO den Begriff „personenbezogene Daten eines anderen“ verwendet und die vom Steuergeheimnis geschützten personenbezogenen Daten (§ 30 Abs. 2 Nr. 1 AO) und die fremden Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse (§ 30 Abs. 2 Nr. 2 AO) zusammen als „geschützte Daten“ legal definiert. Hieraus ergibt sich für den durch § 86 Abs. 1 FGO gewährleisteten Schutz keine Abweichung. Die Neufassung des § 30 Abs. 2 AO durch Art. 17 Nr. 8 Buchst. a des Gesetzes zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.07.2017 (BGBl I 2017, 2541), die den zuvor in § 30 Abs. 2 Nr. 1 AO verwendeten Begriff „Verhältnisse eines anderen“ durch den Begriff „personenbezogene Daten eines anderen“ ersetzte und die Legaldefinition der „geschützten Daten“ einfügte, erfolgte insoweit ohne inhaltliche Änderung (BTDrucks 18/12611, S. 81).

21

c) Im Rahmen der bei der Offenbarung geschützter Daten erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist bei einer Konkurrentenklage auch zu beachten, dass verschiedene Rechtsgüter betroffen sind, wie zum Beispiel das Grundrecht des Wettbewerbers auf effektiven Rechtsschutz durch Vorlage der Akten einerseits und das Recht des beigeladenen Steuerpflichtigen auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes –GG–) einschließlich des dadurch gewährleisteten Schutzes der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse andererseits (vgl. hierzu den zu § 99 der Verwaltungsgerichtsordnung ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 14.03.2006 – 1 BvR 2087/03, 1 BvR 2111/03, BVerfGE 115, 205, unter C.II.1.a). Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass das Recht auf Wahrung des in § 30 AO gesetzlich umschriebenen Steuergeheimnisses zwar als solches kein Grundrecht ist, die Geheimhaltung bestimmter steuerrechtlicher Angaben und Verhältnisse, deren Weitergabe einen Bezug auf den Steuerpflichtigen oder auf private Dritte erkennbar werden lässt, aber durch eine Reihe grundrechtlicher Verbürgungen, insbesondere durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 14 GG, gegebenenfalls i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG geboten sein kann (zum Steuergeheimnis BVerfG-Urteil vom 17.07.1984 – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83, BVerfGE 67, 100, unter C.II.3.a). Letztlich ist dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auch hier durch Abwägung der verschiedenen kollidierenden Rechtsgüter Rechnung zu tragen, da § 86 Abs. 1 FGO keine Lösung des Konflikts durch Benennung des Maßstabs und Bereitstellung von Lösungswegen vorzeichnet (vgl. auch BVerfG-Beschluss vom 14.03.2006 – 1 BvR 2087/03, 1 BvR 2111/03, BVerfGE 115, 205, unter C.II.1.a und C.II.2.c; BVerfG-Urteil vom 17.07.1984 – 2 BvE 11/83, 2 BvE 15/83, BVerfGE 67, 100, unter C.II.3.a). Dabei ist einerseits das Rechtsschutzziel der Konkurrentenklage, mit der die Verletzung drittschützender Normen geltend gemacht wird, und andererseits das den beigeladenen Steuerpflichtigen schützende Steuergeheimnis, das eine Offenbarung nur in einem für die Konkurrentenklage erforderlichen Umfang erlaubt, zu beachten.

22

3. Im Streitfall sind nach dem FG-Beschluss die vollständigen Umsatzsteuerakten der Beigeladenen zu 1. für den Besteuerungszeitraum 2013 sowie alle zu den vom FA geführten sonstigen Steuerakten der Beigeladenen zu 1. gelangten Unterlagen, die die Anwendung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG im Streitjahr betreffen, vorzulegen. Nach dem gemäß § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO maßgeblichen unmittelbaren funktionalen Zusammenhang zwischen Offenbarung und Verfahrensdurchführung sowie des dabei zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsprinzips (s. oben II.2.a und II.2.c), der sich hieraus ergebenden Frage, welche Akten als entscheidungserheblich anzusehen sind, und unter Berücksichtigung der Grenzen der dem FG insoweit zustehenden Einschätzungsprärogative (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 16.04.2020 – VII S 35/19, BFH/NV 2020, 1076, Rz 20), ist das auslegungsbedürftige Vorlageverlangen des FG wie folgt zu präzisieren.

23

a) Verfahrensrechtlich sind die Unterlagen entscheidungserheblich, die für die Prüfung der Voraussetzungen der in Betracht kommenden Festsetzungs- und Änderungsvorschriften unter Berücksichtigung einer Ablaufhemmung der Festsetzungsverjährung und der Ersetzung eines Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren von Bedeutung sind.

24

Dies betrifft die Unterlagen, die eine Prüfung der Voraussetzungen der Festsetzungs- und Änderungsvorschriften der §§ 168, 164 Abs. 2 AO nebst der Regelung zur Ablaufhemmung der Festsetzungsverjährung (§ 171 Abs. 3a AO) unter Berücksichtigung der für die Beigeladene zu 1. geltenden Festsetzungsfrist (vgl. BFH-Urteil vom 12.02.2015 – V R 42/14, BFH/NV 2015, 945, Rz 25) ermöglichen. Hierbei handelt es sich um diejenigen Unterlagen aus den Steuerakten der Beigeladenen zu 1., anhand derer das FG prüfen kann, ob (erstens) die Beigeladene zu 1. eine Umsatzsteuervoranmeldung für Januar 2013 eingereicht hat, die nach § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichstand, ob (zweitens) die Beigeladene zu 1. erst im Einspruchsverfahren gegen die abgelehnte Änderung des Umsatzsteuervorauszahlungsbescheids eine als Vorbehaltsfestsetzung wirkende Umsatzsteuerjahreserklärung einreichte, die nach § 365 Abs. 3 Satz 1 AO zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens wurde (vgl. BFH-Urteil vom 03.11.2011 – V R 32/10, BFHE 236, 228, BStBl II 2012, 525, Leitsatz), und ob (drittens) der Vorbehalt der Nachprüfung bestehen blieb, so dass der –von der Klägerin schon übermittelte– Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 24.11.2017, mit dem der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde, gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Klageverfahrens vor dem FG wurde.

25

b) Materiell-rechtlich sind bei einer Konkurrentenklage gegen die Steuersatzermäßigung der Umsätze eines gemeinnützigen Steuerpflichtigen Akten nach § 86 Abs. 1 FGO nur insoweit vorzulegen, als § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG eine drittschützende Wirkung –wie etwa in Bezug auf das Vorliegen eines Zweckbetriebs oder die in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen– zukommt. Von einer Beschränkung der Vorlagepflicht in Bezug auf Vorschriften mit drittschützender Wirkung ist auch das FG in seinem Beschluss ausgegangen. Dabei ist wie folgt zu unterscheiden:

26

aa) Soweit § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG auf die §§ 51 bis 63 AO verweist, können Dritte aus diesen Vorschriften der Abgabenordnung keine eigenen Rechte herleiten. Es handelt sich nicht um Vorschriften, die Wettbewerber schützen, wie der BFH im Zusammenhang mit § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) und § 3 Nr. 6 Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) bereits entschieden hat (BFH-Urteil vom 15.10.1997 – I R 10/92, BFHE 184, 212, BStBl II 1998, 63, unter II.B.3.) und was ebenso für deren Anwendung auf der Grundlage von § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG gilt.

27

bb) Drittschützenden Charakter haben demgegenüber die Regelungen zu den Zweckbetrieben (§§ 65 bis 68 AO) und damit vorliegend zu den Voraussetzungen eines Integrationsprojekts im Sinne von § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 und 2 UStG i.V.m. § 68 Nr. 3 Buchst. c AO i.d.F. des Gesetzes zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen vom 23.04.2004 (BGBl I 2004, 606) –a.F.–.

28

(1) Soweit § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 und 2 UStG auf die §§ 64 bis 68 AO verweist, handelt es sich um Normen, die Wettbewerber und somit Dritte schützen können (ebenso zu § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 KStG und § 3 Nr. 6 Satz 1 GewStG BFH-Urteil vom 15.10.1997 – I R 10/92, BFHE 184, 212, BStBl II 1998, 63, unter II.B.4.a bis c; vgl. auch BFH-Urteil vom 26.01.2012 – VII R 4/11, BFHE 236, 481, BStBl II 2012, 541, Rz 17 und 18). Ein Wettbewerber kann daher in einer Konkurrentenstreitsache geltend machen, dass die Finanzbehörde die Zweckbetriebseigenschaft zu Unrecht bejaht hat.

29

(2) Hat die Zweckbetriebseigenschaft drittschützenden Charakter, ist für ein Integrationsprojekt im Sinne des § 132 Abs. 1 SGB IX a.F. (heute gleichlautend zum Inklusionsbetrieb § 215 Abs. 1 SGB IX) als Zweckbetrieb im Sinne des § 68 Nr. 3 Buchst. c AO a.F. maßgeblich, ob mindestens 40 % der Beschäftigten besonders betroffene schwerbehinderte Menschen im Sinne des § 132 Abs. 1 SGB IX a.F. sind. Zu dieser den Streitfall betreffenden Frage hat der BFH bereits entschieden, dass es für die Berechnung der für den Zweckbetrieb erforderlichen Beschäftigungsquote auf das Verhältnis der in dem Integrationsprojekt beschäftigten Arbeitnehmer mit und ohne Schwerbehinderung ankommt. Arbeitnehmerähnlich beschäftigte behinderte Menschen in Werkstätten für Behinderte sind für die Quotenermittlung dann zu berücksichtigen, wenn sie in einem Arbeitsverhältnis mit dem Betreiber des Integrationsprojektes stehen. Ist das nicht der Fall, können sie berücksichtigt werden, wenn zwischen ihrem Arbeitgeber und dem Betreiber des Integrationsprojekts eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft besteht (BFH-Urteil vom 27.02.2020 – V R 10/18, BFH/NV 2020, 1246, Rz 14, 15, 21 bis 23).

30

cc) Auch § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 UStG ist eine drittschützende Vorschrift, da sie die Steuersatzermäßigung über das Vorliegen eines Zweckbetriebs hinaus an weitere Voraussetzungen knüpft.

31

(1) Nach § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 Alternative 1 UStG gilt der ermäßigte Steuersatz für Leistungen von Zweckbetrieben nur, wenn der Zweckbetrieb nicht in erster Linie der Erzielung zusätzlicher Einnahmen durch die Ausführung von Umsätzen dient, die in unmittelbarem Wettbewerb mit dem allgemeinen Steuersatz unterliegenden Leistungen anderer Unternehmer ausgeführt werden.

32

Dem liegt zugrunde, dass der ermäßigte Steuersatz nicht dazu dient, Wettbewerber, die dem Regelsteuersatz unterliegen, mit Hilfe des Zweckbetriebs aus dem Wettbewerb zu verdrängen (vgl. BFH-Urteil vom 05.04.2023 – V R 14/22, BFHE 280, 348, Rz 26 und 27). Demgemäß kommt es auch darauf an, ob der Zweckbetrieb seine Leistungen an nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigte Empfänger erbringt und diese aufgrund der Anwendung der Steuersatzermäßigung die steuerbegünstigte Körperschaft und nicht den regelsatzbesteuerten Wettbewerber beauftragen. Die Steuersatzermäßigung wäre danach bereits dann zu verneinen, wenn der ermäßigte Steuersatz als Werbemittel zur Anbahnung von Geschäftsverbindungen zu nicht vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängern genutzt wird oder Leistungen fast ausschließlich gegenüber nicht (voll) vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängern erbracht werden (vgl. Abschn. 12.9 Abs. 13 Satz 4 zweiter und dritter Spiegelstrich des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses –UStAE–). Allerdings ist § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 3 Alternative 1 UStG keine „Steuervorteilsberechnung“ zu entnehmen, wie sie Abschn. 12.9 Abs. 13 Satz 5 bis 7 UStAE als Vereinfachungsregelung vorsieht. Diese Verwaltungsregelung stellt darauf ab, ob ein Steuervorteil, der sich aus der Steuersatzdifferenz ergibt, den Betrag übersteigt, den die Einrichtung nach Abzug von Drittzuwendungen im Rahmen der Beschäftigung aller besonders betroffenen schwerbehinderten Menschen zusätzlich aufwendet. Es handelt sich somit um eine norminterpretierende Verwaltungsanweisung, die die Gerichte nicht bindet (vgl. allgemein BFH-Urteil vom 07.07.2021 – III R 40/19, BFHE 273, 322, BStBl II 2021, 864, Rz 30) und demgemäß nur insoweit entscheidungserheblich sein kann, als es um die Frage geht, ob das FA einen den Aufwandsbetrag übersteigenden Steuervorteil bejaht oder verneint hat.

33

(2) Im Hinblick auf § 12 Abs. 2 Nr. 8 Satz 3 Alternative 2 UStG ist für das Verlangen des FG, Unterlagen aus den Steuerakten der Beigeladenen zu 1. vorzulegen, zu berücksichtigen, dass die Finanzverwaltung eine Anwendung der zweiten Alternative des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Satz 3 UStG auf Zweckbetriebe nach § 68 Nr. 3 Buchst. c AO a.F. bislang abgelehnt hat (vgl. Abschn. 12.9 Abs. 13 UStAE zum heutigen Inklusionsbetrieb nach § 215 Abs. 1 SGB IX; vgl. auch BTDrucks 16/2712, S. 75) und demgemäß die Bejahung der Steuersatzermäßigung durch das FA im Streitfall auf dieser Grundlage nur auf der ersten Alternative des § 12 Abs. 2 Nr. 8 Satz 3 UStG beruhen kann.

34

4. Danach sind im Streitfall aus den vom beigeladenen Finanzministerium übersandten Akten und Aktenbestandteilen grundsätzlich die Unterlagen, die Daten zur Einreichung der Umsatzsteuervoranmeldung für Januar 2013 und zur Umsatzsteuerjahreserklärung 2013 als Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung enthalten, vorzulegen. Gleiches gilt für den Bericht über die Umsatzsteuer-Sonderprüfung bei der Beigeladenen zu 1. für das Jahr 2013, der die Prüfung der Voraussetzungen eines Integrationsbetriebs als Zweckbetrieb im Sinne des § 68 Nr. 3 Buchst. c AO a.F. zum Gegenstand hat. Insoweit ist der Antrag der Klägerin begründet. Sofern diese Unterlagen in den übersandten Akten und Aktenbestandteilen mehrfach und inhaltsgleich enthalten sind, beschränkt sich die Vorlage auf eine Fassung der Unterlagen.

35

Allerdings ist die Aktenvorlage zur Wahrung des Steuergeheimnisses (§ 30 AO) und der dabei –wie vorstehend ausgeführt– gebotenen Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Umfang des Tenors zu beschränken sowie der darauf bezogene weitergehende Antrag der Klägerin insoweit abzulehnen. Denn die Vorlage von entscheidungserheblichen Akten ist im Streitfall insoweit unverhältnismäßig, als hierdurch Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse des Steuerpflichtigen (hier der Beigeladenen zu 1.) offenbart werden, die der Konkurrent (hier die Klägerin) bei seiner wirtschaftlichen Tätigkeit verwerten kann, ohne dass es auf diese Angaben für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung ankommt. Daher sind die dem Grunde nach vorzulegenden Unterlagen aus den Steuerakten der Beigeladenen zu 1. im Umfang eines zu ihren Gunsten zu bejahenden Schutzbedürfnisses zu schwärzen. Dies gilt insbesondere für umsatz- oder aufwandsbezogene Angaben wie etwa die Berechnungsgrundlagen, die nach der Verwaltungsauffassung der Berechnung eines Steuervorteils zugrunde zu legen sind, nicht aber für den im Gegensatz hierzu offenzulegenden Umstand, ob das FA einen Steuervorteil bejaht oder verneint hat (s. oben II.3.b cc (1)). Erforderlich, nicht unverhältnismäßig und daher offenbarungspflichtig ist im Übrigen die Offenbarung von Angaben zur Beschäftigungsquote nach § 68 Nr. 3 Buchst. c AO a.F. und dabei insbesondere zu der Frage, wie viele Arbeitnehmer mit und ohne Schwerbehinderung in dem Inte-grationsprojekt beschäftigt waren und ob diese auch in dem erforderlichen Arbeitsverhältnis mit dem Betreiber des Integrationsprojektes standen (s. oben II.3.b bb (2)).

36

Sprechen im Übrigen naheliegende Gründe, wie im Beiladungsbeschluss des Senats ausgeführt, dafür, dass die Klage des Konkurrenten gegen eine Steuerfestsetzung des Steuerpflichtigen zulässig ist, was aber noch anhand der angeforderten Akten zu überprüfen ist (s. oben II.3.a), kommt es jedenfalls nach den Verhältnissen des Streitfalls, in dem das FG bereits seit der Klageerhebung im Jahr 2016 eine Vorlage der aus seiner Sicht entscheidungserheblichen Akten anmahnt, nicht in Betracht, die Aktenvorlage zunächst auf Unterlagen zur Verfahrensfrage zu beschränken und erst nach Bejahung der Zulässigkeit durch das FG aufgrund eines weiteren Aktenvorlageverlangens die das materielle Recht betreffenden Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Nach Maßgabe des Grundsatzurteils des BFH vom 15.10.1997 – I R 10/92 (BFHE 184, 212, BStBl II 1998, 63) bestehen –auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips– keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass insoweit ein überwiegendes Interesse der Beigeladenen zu 1. an der Geheimhaltung bestehen könnte oder die angeforderten Aktenbestandteile für die Entscheidung des FG als nicht erforderlich anzusehen sein könnten.

37

5. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen (BFH-Beschlüsse vom 14.11.2006 – IX B 156/06, BFH/NV 2007, 473, unter II.6.; vom 16.01.2013 – III S 38/11, BFH/NV 2013, 701, Rz 30 und vom 25.02.2014 – V B 60/12, BFHE 244, 234, BStBl II 2014, 478, Rz 9). Soweit der VII. Senat des BFH in seinem Beschluss vom 03.06.2015 – VII S 11/15 (BFH/NV 2015, 1100) eine Kostenentscheidung für den Fall eines erfolglosen Antrags nach § 86 Abs. 3 FGO noch für erforderlich gehalten hat, hat er hieran nicht mehr festgehalten (BFH-Beschluss vom 16.04.2020 – VII S 35/19, BFH/NV 2020, 1076, Rz 22) und ist danach eine Anfrage entbehrlich, da im Streitfall der Antrag –teilweise– erfolglos ist.

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BFH: Mittelbare Anteilsvereinigung bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft („RETT-Blocker“) – Kein Vertrauensschutz

Der BFH hat zu der Frage Stellung genommen, ob der Kläger zum Zeitpunkt der Anteilsübertragungen (Jahr 2012) in die durch die Rechtsprechung und Finanzverwaltung gesicherte Auslegung des Anteils-Begriffs für die Ebene der zwischengeschalteten Personengesellschaft vertrauen durfte (Az. II R 7/22).

BFH, Urteil II R 7/22 vom 28.02.2024

Leitsatz:

  1. Bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar an einer grundbesitzenden Gesellschaft beteiligt ist, ist als Anteil im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 des Grunderwerbsteuergesetzes –wie bei einer zwischengeschalteten Kapitalgesellschaft– die Beteiligung am Gesellschaftskapital und nicht die sachenrechtliche Beteiligung am Gesamthandsvermögen maßgebend (Anschluss an Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 27.09.2017 – II R 41/15, BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667).
  2. Die rückwirkende Anwendung des BFH-Urteils vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667) auf einen Anteilserwerb im Jahr 2012 verstößt nicht gegen Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, da kein schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen in die frühere Rechtslage bestehen konnte.
  3. Die grunderwerbsteuerrechtlichen Anzeigepflichten sind objektiver Natur und bestehen auch dann, wenn durch die Rechtsprechung ein bereits erfolgter Rechtsvorgang als steuerbar angesehen wird, bei dem der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Verwirklichung des Erwerbsvorgangs subjektiv nicht wusste, dass eine Anzeige zu erstatten ist.
  4. Weist das Finanzgericht einen Billigkeitsantrag auf Festsetzung der Grunderwerbsteuer auf 0 € mangels Ermessensreduzierung auf Null ab und verpflichtet es die Finanzbehörde, den Billigkeitsantrag unter Berücksichtigung der Auffassung des Gerichts neu zu bescheiden, ist der Steuerpflichtige insoweit unterlegen und kann im Revisionsverfahren seinen weitergehenden Antrag auf Festsetzung der Steuer aus Billigkeitsgründen auf 0 € weiter verfolgen.

Tenor:

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 27.01.2022 – 5 K 640/20 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Gründe:

I.

1

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Kapitalgesellschaft luxemburgischen Rechts, war als Kommanditistin zu 100 % am Gesellschaftsvermögen der G-KG beteiligt. Komplementärin der G-KG war ohne Beteiligung am Gesellschaftsvermögen eine GmbH.

2

Mit privatschriftlichen Anteilskaufverträgen vom 09.02.2012 erwarben die Klägerin 94 % und die G-KG 6 % der Anteile der in der Bundesrepublik Deutschland grundbesitzenden GL, ebenfalls eine Kapitalgesellschaft luxemburgischen Rechts.

3

Der Vorgang wurde dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) am 04.04.2019 angezeigt.

4

Das FA ging davon aus, dass der Rechtsvorgang vom 09.02.2012 den Tatbestand des § 1 Abs. 3 Nr. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes in der auf den Streitzeitraum anwendbaren Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 –StEntlG 1999/2000/2002– (BGBl I 1999,402) –GrEStG– erfüllte und setzte gegen die Klägerin Grunderwerbsteuer fest, zuletzt mit Bescheid vom 26.11.2019, der den Grunderwerbsteuerbescheid vom 16.07.2019 änderte. Der hiergegen eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 20.04.2020 als unbegründet zurückgewiesen.

5

Den Antrag der Klägerin, die Grunderwerbsteuer aus sachlichen Billigkeitsgründen (§ 163 der Abgabenordnung –AO–) auf 0 € festzusetzen, lehnte das FA mit Bescheid vom 10.12.2019 ab. Der dagegen eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 14.05.2020 als unbegründet abgewiesen.

6

Die Klage vor dem Finanzgericht (FG), in der das FG das Verfahren bezüglich der Grunderwerbsteuerfestsetzung und das Billigkeitsverfahren zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden hatte, ist im Hauptantrag und im ersten Hilfsantrag, der auf eine Änderung der Steuerfestsetzung auf 0 € aufgrund einer Ermessensreduzierung des FA auf Null gerichtet war, als unbegründet zurückgewiesen worden. Lediglich im zweiten Hilfsantrag –der Neubescheidung des Billigkeitsantrags unter Ausübung von Ermessen durch das FA– hatte die Klage Erfolg. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2022, 856 veröffentlicht.

7

Mit ihrer Revision macht die Klägerin im Hauptantrag eine Verletzung von § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG geltend.

8

Das FG-Urteil verstoße gegen die zum Zeitpunkt der Anteilsübertragungen am 09.02.2012 in der Rechtsprechung und den Erlassen der Finanzverwaltung gesicherte Auslegung des Begriffs des Anteils im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG für die Ebene der zwischengeschalteten Personengesellschaft. Seit dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 08.08.2001 – II R 66/98 (BFHE 195, 427, BStBl II 2002, 156) sei für die Auslegung des Anteilsbegriffs bei zwischengeschalteten Personengesellschaften auf die sachenrechtliche Beteiligung am Gesamthandsvermögen abgestellt worden. Diese Pro-Kopf-Betrachtung sei kurz vor dem Rechtsvorgang am 09.02.2012 durch das Urteil des FG Münster vom 22.02.2011 – 8 K 3034/08 GrE (EFG 2011, 1274) bestätigt worden. Auf diese gefestigte Rechtsprechung habe die Klägerin vertrauen dürfen. Bereits von der vor dem 01.01.2000 geltenden Rechtslage seien mittelbare Anteilsvereinigungen erfasst worden. Darauf hätten beispielsweise die BFH-Urteile vom 11.06.1975 – II R 38/69 (BFHE 116, 406, BStBl II 1975, 834) und vom 30.03.1988 – II R 76/87 (BFHE 153, 63, BStBl II 1988, 550) hingewiesen. Auch nach Einfügung der mittelbaren Anteilsvereinigung in § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG durch das StEntlG 1999/2000/2002 sei es –entgegen der Auffassung des FG– nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung in Bezug auf den Anteilsbegriff gekommen.

9

Die Finanzverwaltung selbst habe auch nach Änderung des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG durch das StEntlG 1999/2000/2002 an der sachenrechtlichen Betrachtungsweise festgehalten. In Rz 5, Beispiel 5 der gleich lautenden Erlasse der obersten Finanzbehörden der Länder vom 09.10.2013 zur Anwendung des § 1 Abs. 3a GrEStG (BStBl I 2013, 1364) werde ausgeführt, dass eine Besteuerung nach § 1 Abs. 3 GrEStG nicht in Betracht komme, weil aufgrund der gesamthänderischen Mitberechtigung eines Fremden an der KG nicht mindestens 95 % der Anteile an der grundbesitzenden GmbH übertragen worden seien. Anlass zu einer anderen Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG habe erst das BFH-Urteil vom 12.03.2014 – II R 51/12 (BFHE 245, 381, BStBl II 2016, 356) gegeben. Die Finanzverwaltung habe jedoch in ihrem Nichtanwendungserlass vom 09.12.2015 (BStBl I 2016, 477) zu dem BFH-Urteil vom 12.03.2014 – II R 51/12 (BFHE 245, 381, BStBl II 2016, 356) ausgeführt, dass trotz der Änderung des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG durch das StEntlG 1999/2000/2002 an der bisherigen unterschiedlichen Behandlung von zwischengeschalteten Personen- und Kapitalgesellschaften festgehalten werde.

10

Die erst durch das BFH-Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667) erfolgte Änderung der Rechtsprechung zur Auslegung des Anteilsbegriffs bei zwischengeschalteten Personengesellschaften habe nicht auf den Zeitpunkt des streitgegenständlichen Erwerbsvorgangs am 09.02.2012 zurückwirken können. Eine solche Rückwirkung, die das Vertrauen der Klägerin in die bisherige Rechtsprechung zerstören würde, verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) und gegen Art. 3 GG.

11

Der Grunderwerbsteuerbescheid sei zudem erst ergangen, nachdem die Festsetzungsfrist abgelaufen sei. Eine Anlaufhemmung der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO wegen Nichterstattung einer Anzeige nach § 19 GrEStG sei nicht eingetreten, da der Rechtsvorgang nach der Rechtslage im Zeitpunkt seiner Vornahme am 09.02.2012 nicht nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG steuerbar gewesen sei. Für die Klägerin habe danach keine Pflicht zur Anzeigenerstattung, auch nicht rückwirkend aufgrund des BFH-Urteils vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667), bestanden. Der Grunderwerbsteuerbescheid sei daher rechtswidrig, weil Grunderwerbsteuer für den Rechtsvorgang nicht habe festgesetzt werden dürfen.

12

Im Hilfsantrag macht die Klägerin einen Verstoß gegen § 163 AO geltend. Das Ermessen des FA, die Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen auf 0 € festzusetzen, sei auf Null reduziert gewesen.

13

Entgegen der Auffassung des FG habe zum Übertragungszeitpunkt am 09.02.2012 ein derart hohes Maß an Vertrauen in die bisherige Rechtsprechung und Auffassung der Finanzverwaltung bestanden, dass das Ermessen des FA auf Null reduziert und die Steuer nach § 163 AO aus sachlichen Billigkeitsgründen auf 0 € festzusetzen sei. Die Finanzverwaltung habe sich in den zum Erwerbszeitpunkt anwendbaren gleich lautenden Erlassen vom 21.03.2007 zur Anwendung des § 1 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 GrEStG auf Organschaftsfälle (BStBl I 2007, 422, Ziff. 7.) und vom 12.10.2007 zu Erwerbsvorgängen im Sinne des § 1 Abs. 3 GrEStG im Zusammenhang mit Treuhandgeschäften und Auftragserwerben beziehungsweise Geschäftsbesorgungen (BStBl I 2007, 761, Ziff. 4.1.) dahingehend gebunden, dass auf die sachenrechtliche Beteiligung am Gesamthandsvermögen abzustellen sei. Danach sei der Erwerbsvorgang der Klägerin nicht nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG steuerbar. Beide Erlasse seien erst am 18.09.2018 außer Kraft getreten. Sie hätten gemäß dem Gebot der gleichheitsgerechten Rechtsanwendung zu einer Selbstbindung der Verwaltung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG geführt.

14

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, die Grunderwerbsteuerbescheide vom 16.07.2019 und vom 26.11.2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.04.2020 aufzuheben,

hilfsweise das FA unter Aufhebung des ablehnenden Bescheids vom 10.12.2019 und der Einspruchsentscheidung vom 14.05.2020 zu verpflichten, die Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen auf 0 € festzusetzen.

15

Das FG beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II.

16

Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Erwerbsvorgang vom 09.02.2012 nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG der Grunderwerbsteuer unterliegt und bei Erlass des Grunderwerbsteuerbescheids vom 16.07.2019 die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Das FG hat ferner zutreffend entschieden, dass die Steuer nicht aus Billigkeitsgründen aufgrund einer Ermessensreduzierung des FA auf Null mit 0 € festzusetzen ist.

17

1. Der Hauptantrag der Klägerin, die Grunderwerbsteuerbescheide vom 16.07.2019 und vom 26.11.2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 20.04.2020 aufzuheben, hat keinen Erfolg.

18

a) Das FG hat zutreffend entschieden, dass die erstmalige teilweise unmittelbare und teilweise mittelbare Vereinigung aller Anteile der GL bei der Klägerin aufgrund der Anteilskaufverträge vom 09.02.2012 gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG der Grunderwerbsteuer unterliegt.

19

aa) Gehört zum Vermögen einer Gesellschaft ein inländisches Grundstück, unterliegt nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG der Steuer –soweit eine Besteuerung nach Abs. 2a der Vorschrift nicht in Betracht kommt– ein Rechtsgeschäft, das den Anspruch auf Übertragung eines oder mehrerer Anteile der Gesellschaft begründet, wenn durch die Übertragung unmittelbar oder mittelbar mindestens 95 % der Anteile der Gesellschaft in der Hand des Erwerbers allein vereinigt werden würden. Wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667) entschieden hat, kann auch der Anteilserwerb bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft zu einer mittelbaren Anteilsvereinigung im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG führen, wenn dem Erwerber nach dem Anteilserwerb mindestens 95 % der Beteiligung am Gesellschaftskapital der Personengesellschaft zuzurechnen sind. Dabei ist bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar an einer grundbesitzenden Gesellschaft beteiligt ist, als Anteil im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG –wie bei einer zwischengeschalteten Kapitalgesellschaft– die Beteiligung am Gesellschaftskapital und nicht die sachenrechtliche Beteiligung am Gesamthandsvermögen maßgebend. Es kommt entscheidend auf die rechtlich begründeten Einflussmöglichkeiten auf die grundbesitzende Gesellschaft an (BFH-Urteil vom 27.05.2020 – II R 45/17, BFHE 270, 247, BStBl II 2021, 315, Rz 12 ff.).

20

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde durch die Anteilskaufverträge vom 09.02.2012 der Tatbestand des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG erfüllt. Der Klägerin waren nach den Anteilskaufverträgen 94 % der Anteile an der GL unmittelbar und die restlichen 6 % der Anteile mittelbar über ihre 100%ige Beteiligung an der G-KG zuzurechnen. Es wurden hierdurch erstmals alle Anteile der grundbesitzenden GL in der Hand der Klägerin vereinigt. Die Beteiligung der Komplementär-GmbH steht dem nicht entgegen, denn diese war nicht am Vermögen der G-KG beteiligt.

21

b) Das FG hat außerdem zutreffend erkannt, dass sich die Klägerin in Bezug auf die Steuerfestsetzung nicht mit Erfolg auf Vertrauensschutz berufen kann. Ein solcher wurde nicht durch eine gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft geschaffen, die Eingang in die Richtlinien der Finanzverwaltung gefunden hat. Ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG liegt –entgegen der Auffassung der Klägerin– danach nicht vor.

22

aa) Ein dem Schutz vor einer verschärfenden Gesetzesänderung entsprechender oder jedenfalls angenäherter Vertrauensschutz ist bei einer Rechtsprechungsänderung nur dann geboten, wenn die Entscheidung des BFH von einer Jahrzehnte währenden höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht, die langjährige Rechtsprechung Eingang in die Richtlinien der Finanzverwaltung (Art. 108 Abs. 7 GG) gefunden hat und der BFH bei einem derartigen Rechtsfindungsprozess ähnlich einem Normgeber tätig geworden ist (BFH-Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15, BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667, Rz 32, m.w.N.). Für den Vertrauensschutz ist auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der Steuerpflichtige die für ihn endgültige wirtschaftliche Disposition getroffen hat (BFH-Urteil vom 11.07.2017 – IX R 36/15, BFHE 258, 427, BStBl II 2019, 208, Rz 42).

23

bb) Nach diesen Grundsätzen konnte die Klägerin am 09.02.2012, als sie den Vertrag über den unmittelbaren und mittelbaren Erwerb der Anteile an der GL abschloss, nicht auf die nach ihrer Ansicht zu diesem Zeitpunkt geltende Rechtslage vertrauen, dass bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG vorliegen, auf die gesamthänderische und nicht auf die kapitalmäßige Beteiligung an der zwischengeschalteten Personengesellschaft abgestellt wird.

24

(1) Ein solches schützenswertes Vertrauen wurde nicht durch eine gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft geschaffen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667, Rz 34) entschieden hat, gab es bereits im Jahr 2005 keine Jahrzehnte währende höchstrichterliche Rechtsprechung des BFH mit dem Inhalt, dass bei einer Personengesellschaft auch auf der Beteiligungsebene die gesamthänderische Mitberechtigung maßgeblich sein soll. Eine gefestigte Rechtsprechung zur Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bestand danach auch im Streitfall zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Erwerbsvorgangs am 09.02.2012 nicht. Diese bildete sich erst durch die BFH-Urteile vom 12.03.2014 – II R 51/12 (BFHE 245, 381, BStBl II 2016, 356) und vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667).

25

Die von der Klägerin angeführten BFH-Urteile vom 11.06.1975 – II R 38/69 (BFHE 116, 406, BStBl II 1975, 834) und vom 30.03.1988 – II R 76/87 (BFHE 153, 63, BStBl II 1988, 550) sind noch zu einer anderen Rechtslage ergangen. Nach dem für die damaligen Streitjahre geltenden § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG a.F. sollte der Steuer unter anderem ein Rechtsgeschäft unterliegen, das den Anspruch auf Übertragung mehrerer Anteile der Gesellschaft begründet, wenn durch die Übertragung alle Anteile der Gesellschaft in der Hand des Erwerbers vereinigt werden würden. Die Vorschrift stellte auf eine erforderliche Inhaberschaft von 100 % der Anteile der Gesellschaft ab; zudem fehlte das Tatbestandsmerkmal der mittelbaren Anteilsvereinigung. Auch das von der Klägerin erwähnte BFH-Urteil vom 08.08.2001 – II R 66/98 (BFHE 195, 427, BStBl II 2002, 156) erging zu dieser alten Rechtslage.

26

Mit Urteil vom 12.03.2014 – II R 51/12 (BFHE 245, 381, BStBl II 2016, 356, Rz 20) hat der BFH für das Jahr 2004 im Hinblick auf die Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft und einer grundbesitzenden Personengesellschaft entschieden, dass die zwischengeschaltete Personengesellschaft ebenso zu behandeln ist wie eine zwischengeschaltete Kapitalgesellschaft und es nicht auf die Beteiligung aller Gesellschafter am Gesamthandsvermögen, sondern auf die Beteiligung am Gesellschaftskapital der zwischengeschalteten Personengesellschaft ankommt. Zur Begründung führte er aus, eine qualifizierte Beteiligung von 95 % und mehr am Gesellschaftsvermögen der zwischengeschalteten Personengesellschaft gewährleistet, dass der Anteilsinhaber bei der zwischengeschalteten Gesellschaft (Zwischengesellschaft) und bei der grundbesitzenden Gesellschaft selbst in grunderwerbsteuerrechtlich erheblicher Weise die rechtliche Möglichkeit hat, seinen Willen durchzusetzen. In seinem Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667, Rz 18 ff.) hat der BFH diese Sichtweise dann ausdrücklich für eine Konstellation wie im Streitfall bestätigt, bei der eine zwischengeschaltete Personengesellschaft an einer grundbesitzenden Kapitalgesellschaft beteiligt ist. In Rz 21 dieses Urteils hat er klarstellend dargelegt, dass er an der im BFH-Urteil vom 08.08.2001 – II R 66/98 (BFHE 195, 427, BStBl II 2002, 156) zum Anteilsbegriff des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG a.F. geäußerten Rechtsauffassung nicht mehr festhält.

27

(2) Mangels Existenz einer jahrzehntelangen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Auslegung des Anteilsbegriffs im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bei zwischengeschalteten Personengesellschaften kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, eine solche Rechtsprechung sei von der Finanzverwaltung in ihren Richtlinien niedergelegt und in steter, ebenfalls Jahrzehnte andauernder Verwaltungsübung praktiziert worden. Die von der Klägerin zitierten gleich lautenden Erlasse vom 21.03.2007 zur Anwendung des § 1 Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 GrEStG auf Organschaftsfälle (BStBl I 2007, 422, Ziff. 7.) und vom 12.10.2007 zu Erwerbsvorgängen im Sinne des § 1 Abs. 3 GrEStG im Zusammenhang mit Treuhandgeschäften und Auftragserwerben beziehungsweise Geschäftsbesorgungen (BStBl I 2007, 761, Ziff. 4.1.) ergingen zudem nicht zu der Frage, wie der Anteil im Sinne des § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG bei einer sogenannten RETT-Blocker-Struktur mit zwischengeschalteter Personengesellschaft zu bestimmen ist. Die gleich lautenden Erlasse sprechen in den vorgenannten Ziffern lediglich mittelbar die Auffassung der Finanzverwaltung zum Anteilsbegriff bei einer zwischengeschalteten Personengesellschaft in ihrem jeweiligen Regelungskreis an, entfalten darüber hinaus aber keine Vertrauensschutzwirkung. Der Steuerpflichtige kann lediglich dann verlangen, nach Maßgabe der Verwaltungsanweisung besteuert zu werden, wenn der Sachverhalt offensichtlich von der Verwaltungsanweisung gedeckt ist, was vorliegend nicht der Fall ist. Die von der Klägerin angeführten gleich lautenden Erlasse vom 09.10.2013 zur Anwendung des § 1 Abs. 3a GrEStG (BStBl I 2013, 1364) und der Nichtanwendungserlass vom 09.12.2015 (BStBl I 2016, 477) zu dem BFH-Urteil vom 12.03.2014 – II R 51/12 (BFHE 245, 381, BStBl II 2016, 356) waren zum Zeitpunkt des Anteilserwerbs am 09.02.2012 noch nicht in Kraft. Ein Vertrauenstatbestand muss aber ursächlich für Maßnahmen, Handlungen oder Dispositionen des Steuerpflichtigen gewesen sein (BFH-Urteile vom 30.10.2014 – IV R 61/11, BFHE 247, 332, BStBl II 2015, 478, Rz 34 und vom 07.09.2016 – I R 23/15, BFHE 255, 190, BStBl II 2017, 472, Rz 19), was bezüglich dieser Verwaltungsanweisungen nicht der Fall ist.

28

cc) Die „rückwirkende“ Anwendung der Grundsätze des BFH-Urteils vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667) auf den Streitfall verletzt auch nicht das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG. Unabhängig davon, dass es für die vorliegende Frage noch keine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung gab, auf die sich die Klägerin berufen kann, schafft eine höchstrichterliche Rechtsprechung kein Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Gesetzesauslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Die über den Einzelfall hinausreichende Geltung fachgerichtlicher Gesetzesauslegung beruht allein auf der Überzeugungskraft ihrer Gründe sowie der Autorität und den Kompetenzen des Gerichts. Es bedarf deswegen nicht des Nachweises wesentlicher Änderungen der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen, damit ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rechtsprechung abweichen kann. Kein Prozessbeteiligter kann daher darauf vertrauen, der Richter werde stets an einer bestimmten Rechtsauffassung aus der bisherigen Judikatur festhalten. Die Änderung einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich dann unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2015 – 1 BvR 1667/15, Der Betrieb 2015, 2927, Rz 12).

29

c) Das FG hat schließlich zutreffend entschieden, dass bei Erlass des Grunderwerbsteuerbescheids am 16.07.2019 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten war.

30

aa) Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung sind nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO unter anderem dann, wenn eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.

31

bb) § 19 GrEStG begründet eine gesetzliche Anzeigepflicht im Sinne des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO. Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GrEStG müssen Steuerschuldner Anzeige erstatten über schuldrechtliche Geschäfte, die auf die Vereinigung von mindestens 95 % der Anteile einer Gesellschaft gerichtet sind, wenn zum Vermögen der Gesellschaft ein Grundstück gehört. Anzeigepflichtig ist auch die Vereinigung von mindestens 95 % der Anteile einer Gesellschaft, wenn zum Vermögen der Gesellschaft ein Grundstück gehört (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 GrEStG; BFH-Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15, BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667, Rz 37). Nach § 19 Abs. 3 GrEStG haben die Anzeigepflichtigen innerhalb von zwei Wochen, nachdem sie von dem anzeigepflichtigen Vorgang Kenntnis erhalten haben, den Vorgang anzuzeigen, und zwar auch dann, wenn der Vorgang von der Besteuerung ausgenommen ist.

32

cc) Die grunderwerbsteuerrechtliche Anzeigepflicht nach § 19 GrEStG besteht unabhängig davon, ob und inwieweit die Beteiligten erkannt haben, dass der Rechtsvorgang der Grunderwerbsteuer unterliegt beziehungsweise wussten, dass insoweit eine Anzeigepflicht besteht. Die Anlaufhemmung einer Festsetzungs- oder Feststellungsfrist tritt deshalb unabhängig von subjektiven Merkmalen schon bei objektiver Anzeigepflichtverletzung ein (BFH-Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15, BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667, Rz 39). Eine solche objektive Anzeigepflicht kann sich demnach auch ergeben, wenn durch die Rechtsprechung ein bereits erfolgter Erwerbsvorgang als steuerbar angesehen wird, bei dem der Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Durchführung subjektiv davon ausging, dass er nicht steuerbar und deshalb auch keine Anzeige abzugeben sei. In einem solchen Fall führt die nicht ordnungsgemäße Erstattung der Anzeige aufgrund der Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO dazu, dass die (reguläre) vierjährige Festsetzungsfrist maximal drei Jahre später zu laufen beginnt und –wie im Streitfall– erst nach sieben Jahren abläuft.

33

dd) Im Streitfall ist die Steuer gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG mit Abschluss des Vertrages am 09.02.2012 entstanden (Viskorf in Viskorf, Grunderwerbsteuergesetz, 20. Aufl., § 14 Rz 34). Der Anlauf der Festsetzungsfrist war mangels einer Anzeige des Anteilserwerbs nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO drei Jahre gehemmt. Da die Anzeigepflichten objektiver Natur sind, kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der Anteilskaufverträge am 09.02.2012 und der sich anschließenden gesetzlichen Frist von zwei Wochen wusste, dass sie eine Anzeige zu erstatten hatte. Die vierjährige Frist begann somit erst mit Ablauf des Jahres 2015 zu laufen und endete mit Ablauf des Jahres 2019. Die Festsetzungsverjährung war somit zum Zeitpunkt des Erlasses des ersten Grunderwerbsteuerbescheids vom 16.07.2019 noch nicht eingetreten.

34

2. Auch der Hilfsantrag der Klägerin, die Grunderwerbsteuer aus Billigkeitsgründen auf 0 € festzusetzen, hat in der Sache keinen Erfolg.

35

a) Die Klägerin ist insoweit vor dem FG unterlegen (vgl. BFH-Urteil vom 03.08.1976 – VII R 103/75, BFHE 120, 97, BStBl II 1976, 800) und im Revisionsverfahren beschwert.

36

b) Das Klagebegehren bleibt aber in der Sache erfolglos. Das FG hat zutreffend erkannt, dass die Grunderwerbsteuer nicht aus Billigkeitsgründen mit 0 € festzusetzen ist. Das Ermessen des FA im Billigkeitsverfahren war nicht auf Null reduziert.

37

aa) Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Die Erhebung der Steuer ist unbillig, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn des Steuergesetzes nicht vereinbar ist. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber die Grundlagen für die Steuerfestsetzung anders als tatsächlich geschehen geregelt hätte, wenn er die zu beurteilende Frage als regelungsbedürftig erkannt hätte. Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt dagegen keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteil vom 17.05.2022 – VIII R 26/20, BFHE 277, 218, BStBl II 2022, 829, Rz 15). Die Unbilligkeit kann in der Sache selbst oder in der Person des Steuerpflichtigen begründet liegen (BFH-Urteil vom 17.07.2019 – III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 12).

38

Die Billigkeitsentscheidung nach § 163 AO ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde im Sinne des § 5 AO, die nur einer eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung unterliegt (§§ 102, 121 FGO). Sie kann im finanzgerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Hingegen ist das Gericht nicht befugt, eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen und diese an die Stelle der behördlichen Ermessensentscheidung zu setzen (BFH-Urteil vom 17.05.2022 – VIII R 26/20, BFHE 277, 218, BStBl II 2022, 829, Rz 17). Stellt das Gericht einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der sogenannten Ermessensreduzierung auf Null ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (BFH-Urteil vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 14 ff.).

39

bb) Nach diesen Grundsätzen ist das FG im Streitfall zu Recht davon ausgegangen, dass das Ermessen des FA nicht auf Null reduziert war und keine andere Entscheidung als eine Billigkeitsfestsetzung auf 0 € hätte getroffen werden können. Persönliche Billigkeitsgründe wurden weder vorgetragen noch sind diese ersichtlich. Auch in der Revision verfolgt die Klägerin nur eine Herabsetzung der Steuer aus sachlichen Billigkeitsgründen. Solche sind ebenfalls nicht gegeben. Wie das FG zutreffend ausführte, entsprach die Grunderwerbsteuerfestsetzung der Gesetzeslage in § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG zum Zeitpunkt der Verwirklichung des Rechtsvorgangs im Jahr 2012. Dies hat der BFH im Urteil vom 27.09.2017 – II R 41/15 (BFHE 260, 94, BStBl II 2018, 667) ausdrücklich erkannt. Nicht ausschlaggebend ist, ob das FG Münster in seinem Urteil vom 22.02.2011 – 8 K 3034/08 GrE (EFG 2011, 1274) eine andere Auffassung vertrat. Eine verbindliche Auskunft ist nicht erteilt worden. Auch aus den von der Klägerin zitierten gleich lautenden Erlassen der Finanzverwaltung lässt sich keine Ermessensreduzierung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG auf Null ableiten, da diese für die Besteuerung des Erwerbs vom 09.02.2012 nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 GrEStG nicht einschlägig sind (s. hierzu die Ausführungen unter II.1.b bb (2)).

40

cc) Unberührt von den vorigen Ausführungen bleibt die Verpflichtung des FA zur erneuten Bescheidung des klägerischen Antrags auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG. Der diesbezügliche zweite Hilfsantrag der Klägerin hatte vor dem FG Erfolg. Das FG-Urteil hat bezüglich dieses erfolgreichen Antrags weiterhin Bestand, da dieser –mangels Beschwer der Klägerin– nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden ist.

41

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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BFH: Keine Bindung an eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellende Entscheidung der Ausländerbehörde im Kindergeldrecht

Der BFH hatte die Frage zu klären, ob die Familienkasse nach § 62 Abs. 1a EStG berechtigt und verpflichtet ist, trotz Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde die Freizügigkeitsberechtigung eines Unionsbürgers zu prüfen, festzustellen und Kindergeld festzusetzen (Az. III R 36/23).

BFH, Urteil III R 36/23 vom 25.04.2024

Leitsatz:

  1. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.07.2019 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers.
  2. Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung.
  3. Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht.

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28.02.2023 – 15 K 1527/22 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Gründe:

I.

1

Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) einen Anspruch auf Kindergeldfestsetzung für die Kinder D und A für den Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich März 2022 hat.

2

Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige. Sie wohnt seit dem XX.04.2019 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Ihre in Deutschland geborenen Kinder D (XX.12.2019) und A (XX.09.2021) wohnen mit ihr in einem Haushalt. Ab dem XX.11.2021 war die Klägerin bei der deutschen Zeitarbeitsfirma S. GmbH als Retourenbucherin beschäftigt. Sie erhielt einen Stundenlohn von 10,45 € zuzüglich einer stündlichen Zulage in Höhe von 0,35 €. Das Nettogehalt stieg von 42,12 € anteilig für November 2021 über 426,34 € im Dezember 2021, 606,85 € im Januar 2022, 956,26 € im Februar bis auf 1.158,20 € im März 2022 an. Den Lohnabrechnungen ist zu entnehmen, dass die Klägerin zudem im November 2021 insgesamt 21 Stunden und im Dezember 2021 insgesamt 56 Stunden –unbezahlt– als Ungeimpfte in Quarantäne war.

3

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) setzte mit Bescheiden vom 06.02.2020 und 03.11.2021 Kindergeld für die beiden Kinder der Klägerin fest.

4

Mit Bescheid vom XX.11.2021 stellte die Stadt C (Ausländerbehörde) den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin und ihrer beiden Kinder gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) fest. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Klägerin sich weniger als fünf Jahre in Deutschland aufhalte und keine Erwerbstätigkeit ausübe. Die Ausländerbehörde ordnete die sofortige Vollziehung an. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

5

Die Ausländerbehörde erstattete der Familienkasse gemäß § 18f des Gesetzes über das Ausländerzentralregister (AZRG) Meldung, dass bei der Klägerin der Verlust der Rechte gespeichert wurde, woraufhin die Familienkasse eine Rückfrage an die Ausländerbehörde richtete, ob ein Aufenthaltstitel erteilt worden sei, was mit Mitteilung vom XX.01.2022 verneint wurde. Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 27.01.2022 die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder D und A mit Wirkung ab Dezember 2021 auf. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen des § 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht vorlägen.

6

Innerhalb der Einspruchsfrist reichte die Klägerin verschiedene Unterlagen bei der Familienkasse ein, was diese als Einspruch gegen den Bescheid auslegte.

7

Mit Bescheid vom XX.04.2022 hob die Ausländerbehörde die Bescheide, mit denen sie den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin und ihrer beiden Kinder festgestellt hatte, mit Wirkung zum XX.04.2022 wieder auf. Mit Schreiben vom selben Tage ordnete die Ausländerbehörde die Klägerin der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und die Kinder der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU zu.

8

Mit Änderungsbescheid vom 05.05.2022 bewilligte die Familienkasse daraufhin Kindergeld für beide Kinder ab April 2022. Mit Einspruchsentscheidung vom 18.05.2022 wurde der Einspruch für den verbleibenden Zeitraum Dezember 2021 bis März 2022 als unbegründet zurückgewiesen.

9

Die anschließend erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Ansicht, dass die Familienkasse die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch einschließlich der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in eigener Zuständigkeit prüfen müsse. Da die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU vorlägen, bestehe ein Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 EStG.

10

Mit der Revision macht die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht geltend.

11

Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG Münster vom 28.02.2023 – 15 K 1527/22 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.

12

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

13

Die Revision ist unbegründet und wird deshalb zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Das FG hat zu Recht einen Kindergeldanspruch der Klägerin für den Streitzeitraum bejaht.

14

1. Die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG liegen unstreitig vor.

15

2. Der Kindergeldanspruch ist auch nicht durch § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als rumänische Staatsangehörige im Streitzeitraum innerhalb der Europäischen Union (EU) –für Zwecke der Kindergeldfestsetzung– freizügigkeitsberechtigt war.

16

Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG (i.d.F. vom 11.07.2019, eingeführt durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter anderem dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. Dementsprechend ist auch das FG berechtigt, das Kriterium der Freizügigkeit selbst zu überprüfen.

17

a) Der persönliche Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1a EStG ist eröffnet, da die Klägerin Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats der EU ist und keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

18

b) Die Vorschrift ist auch zeitlich anwendbar. § 62 Abs. 1a EStG in dieser am 18.07.2019 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die –wie im vorliegenden Fall– Zeiträume betreffen, die nach dem 31.07.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).

19

Die Klägerin wohnt bereits seit April 2019 und damit im Streitzeitraum seit mehr als zwei Jahren in Deutschland. Der streitige Kindergeldanspruch fällt daher nicht in den Zeitraum von drei Monaten ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, auf den sich die –nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Familienkasse Niedersachsen Bremen vom 01.08.2022 – C-411/20, EU:C:2022:602 gegen das Unionsrecht verstoßende– Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG bezieht.

20

c) Die Klägerin erfüllt im Streitzeitraum auch die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU.

21

aa) Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts ist weit auszulegen (EuGH-Urteil N. vom 21.02.2013 – C-46/12, EU:C:2013:97, Rz 39). Der EuGH (Urteile Levin vom 23.03.1982 – C-53/81, EU:C:1982:105, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 1983, 1249, Rz 18; Vatsouras/Koupatantze vom 04.06.2009 – C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344, Rz 26 und Genc vom 04.02.2010 – C-14/09, EU:C:2010:57, Rz 18 ff.) betont in ständiger Rechtsprechung, dass als Arbeitnehmer jeder anzusehen ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zudem führt der Umstand, dass das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte Entgelt unter dem von dem jeweiligen Mitgliedstaat definierten Existenzminimum liegt, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist (EuGH-Urteil Levin vom 23.03.1982 – C-53/81, EU:C:1982:105, NJW 1983, 1249, Rz 18). Auch die Dauer der Tätigkeit ist nicht von entscheidender Relevanz (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.07.2023 – L 7 AS 845/23 B ER, Rz 8, juris). Die Arbeitnehmereigenschaft ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen (vgl. EuGH-Urteile Genc vom 04.02.2010 – C-14/09, EU:C:2010:57, Rz 26 f.; N. vom 21.02.2013 – C-46/12, EU:C:2013:97, Rz 43; Urteil des Bundessozialgerichts –BSG– vom 03.12.2015 – B 4 AS 44/15 R, BSGE 120, 149, Rz 26).

22

bb) Nach diesen Maßstäben ist die Würdigung des FG unter Berücksichtigung des Arbeitsvertrages und der Lohnabrechnungen, die von der Klägerin ab dem XX.11.2021 ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 FreizügG/EU zu qualifizieren, nicht zu beanstanden. Das FG hat für den Senat bindend festgestellt (§ 118 Abs. 2 FGO), dass die Klägerin ab dem XX.11.2021 bei der Firma S. GmbH als Retourenbucherin beschäftigt war. Ihre geringe Stundenzahl und ihr dementsprechend niedriges Gehalt im November und Dezember 2021 (Coronazeit) resultierten lediglich daraus, dass sie als Ungeimpfte zeitweise in Quarantäne war und in dieser Zeit ihrer Beschäftigung nicht nachgehen konnte.

23

3. Dem Kindergeldanspruch steht auch nicht der Bescheid der Ausländerbehörde über den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Klägerin vom XX.11.2021 entgegen.

24

a) Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch.

25

Für das steuerrechtliche Kindergeld hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 15.03.2017 – III R 32/15, BFHE 258, 16, BStBl II 2017, 963), wonach den Familienkassen die Berufung auf die fehlende Freizügigkeitsberechtigung im Rahmen der Entscheidung über den Kindergeldanspruch verwehrt war, wenn die fehlende Freizügigkeitsberechtigung nicht durch die Ausländerbehörden oder die Verwaltungsgerichte förmlich festgestellt worden war (vgl. zu den Motiven für die Einführung: Begründung der Bundesregierung vom 25.03.2019 zum Entwurf des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch, BTDrucks 19/8691, S. 63 ff.), mit der Einfügung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG reagiert. Der Kindergeldanspruch ist insoweit nur an die materiellen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts geknüpft, die die Familienkasse –und im Klageverfahren das FG– nach der Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben.

26

b) § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG ist nicht dahingehend auszulegen, dass eine Prüfungskompetenz der Familienkasse nicht mehr besteht, wenn die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit festgestellt hat.

27

aa) Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt (Urteil des Bundesgerichtshofs –BGH– vom 27.06.2012 – IV ZR 239/10, BGHZ 193, 369, Rz 21; Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 14.05.1991 – VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II 1992, 167, Rz 38, m.w.N.).

28

bb) Ausgehend vom Gesetzeswortlaut wird das Prüfungsrecht und die Prüfungspflicht der Familienkasse, wenn es um die Frage geht, ob die materiellen Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten bestehen, nicht eingeschränkt. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG bezieht die Prüfungskompetenz ohne Einschränkungen auf die in § 62 Abs. 1a Satz 3 genannten Freizügigkeitsregelungen nach § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU.

29

Zwar mag es zutreffen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nur den Fall im Blick hatte, dass die Ausländerbehörde noch keinerlei Feststellungen über das Freizügigkeitsrecht getroffen hat (vgl. BTDrucks 19/8691, S. 64). Der Wille, ausschließlich diesen Fall zu regeln, hat aber in der Norm keinen Niederschlag gefunden.

30

Der Wille des Gesetzgebers beziehungsweise der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann bei der Gesetzesauslegung nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text einen hinreichend bestimmten Niederschlag gefunden hat (Urteil des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG– vom 16.02.1983 – 2 BvE 1/83 u.a., BVerfGE 62, 1, unter C.II.3.a; BFH-Urteile vom 30.09.2020 – VI R 34/18, BFHE 271, 145, BStBl II 2021, 446, Rz 30; vom 14.05.1991 – VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II 1992, 167, Rz 38; Senatsurteil vom 24.01.2008 – III R 9/05, BFHE 221, 383, BStBl II 2008, 688, Rz 11). Die Gesetzesmaterialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (BFH-Urteil vom 04.04.2019 – VI R 18/17, BFHE 264, 6, BStBl II 2019, 449, Rz 25, m.w.N.).

31

Eine Auslegung dahingehend, dass bei einer Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde keine eigene Prüfungskompetenz der Familienkasse für einen Kindergeldanspruch mehr bestehen soll, steht nicht mehr im Einklang mit der Gesetzesformulierung. Der Gesetzgeber hätte ohne Weiteres die Prüfungspflicht für bestimmte Fälle ausschließen können (z.B. durch einen Halbsatz wie in § 23 Abs. 3 Satz 7 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder in § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch: „… dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde.“). Dies hat er jedoch nicht getan. Vielmehr ist nach dem Wortlaut davon auszugehen, dass das Gesetz den Familienkassen bei der Prüfung eines Kindergeldanspruchs die Prüfung der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU in allen Fällen überlassen will.

32

cc) § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kann entgegen der Ansicht der Familienkasse auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahin eingeschränkt werden, dass eine eigenständige Prüfungskompetenz nicht mehr besteht, wenn der Verlust der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde festgestellt worden ist.

33

(1) Zwar stellt der Wortlaut der Norm nicht in jedem Fall eine unüberwindliche Grenze der Rechtsanwendung dar (vgl. BVerfG-Beschluss vom 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64, Rz 93). Eine teleologische Reduktion gehört zu den verfassungsrechtlich anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung (BVerfG-Beschluss vom 19.05.2023 – 2 BvR 78/22, NJW 2023, 2632, Rz 35, m.w.N.). Die teleologische Reduktion eines zu weit gefassten Wortlauts einer Norm ist aber nur dann geboten, wenn eine gesetzliche Regelung nach ihrem Wortsinn Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. Sie setzt eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (BFH-Urteil vom 26.06.2007 – IV R 9/05, BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893, unter II.5.; BGH-Beschluss vom 06.02.2024 – II ZB 19/22, Der Betrieb 2024, 794, Rz 11). Die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung bei einer teleologischen Reduktion sind jedoch überschritten, wenn sich eine solche Unvollständigkeit nicht sicher feststellen lässt (vgl. BFH-Urteil vom 09.03.2023 – IV R 25/20, BFHE 279, 545, BStBl II 2023, 836, Rz 25, m.w.N; BSG-Urteil vom 03.11.2021 – B 11 AL 2/21 R, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2022, 597, Rz 24, m.w.N.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.01.2019 – 1 C 15.18, BVerwGE 164, 179, Rz 17 f., m.w.N.). Keine (planwidrigen) Regelungslücken sind rechtspolitische Unvollständigkeiten („rechtspolitische Fehler“), bei denen die Ergänzung aus lediglich rechtspolitischen Gründen wünschenswert wäre (u.a. BFH-Urteile vom 09.08.1989 – X R 30/86, BFHE 158, 45, BStBl II 1989, 891, unter 2.a; vom 26.09.2023 – IX R 19/21, BFHE 281, 514, BStBl II 2024, 43, Rz 33). Es bedarf daher des sicheren Nachweises, dass sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im Normtext nicht niedergeschlagen hat.

34

(2) Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nicht erfüllt. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes ist nicht anzunehmen.

35

Zwar lagen der Einfügung des Satzes 4 des § 62 Abs. 1a EStG vorwiegend Gestaltungen zugrunde, in denen die Ausländerbehörde noch keine Feststellungen zur Freizügigkeit des Kindergeldberechtigten getroffen hatte. In diesen Fällen konnten die Familienkassen nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 15.03.2017 – III R 32/15, BFHE 258, 16, BStBl II 2017, 963) die Kindergeldzahlungen bei nicht freizügigkeitsberechtigten Kindergeldberechtigten erst einstellen, wenn die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit festgestellt hatte. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich aber nicht, dass nur die Fälle der fehlenden Feststellung der ausländerrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung von der Prüfungskompetenz der Familienkassen erfasst werden sollten. Vielmehr führt der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung (BTDrucks 19/8691, S. 64) aus: „Ergeben sich künftig aus den Erkenntnissen bei der Kindergeldbearbeitung begründete Zweifel …, führt die Familienkasse künftig in eigener Zuständigkeit eine Prüfung aller Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1a des Einkommensteuergesetzes einschließlich der Voraussetzungen des § 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU durch und trifft gegebenenfalls eine ablehnende Entscheidung über den Kindergeldanspruch.“ Das Absehen von einer Prüfung bei einer bestehenden ausländerrechtlichen Verlustfeststellung der Freizügigkeitsberechtigung wird nicht erwähnt. Dabei hat der Gesetzgeber sehr wohl den Unterschied zwischen der Prüfung der Voraussetzungen der Freizügigkeitsregelungen für Zwecke der Kindergeldfestsetzung im Vergleich zur Prüfung der Ausländerbehörde zum Zwecke des Erlasses aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen gesehen, indem er in der Gesetzesbegründung weiter ausführt, dass „die mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen verbundene Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Freizügigkeitsrechts … auch nach der Rechtsänderung ausschließlich der Ausländerbehörde vorbehalten sein“ wird (BTDrucks 19/8691, S. 64). Im Regelungsbereich der Kindergeldfestsetzung sollte hingegen den Familienkassen die ausschließliche Prüfungskompetenz der Freizügigkeitsregelungen übertragen werden.

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(3) Auch aus § 18f AZRG ergibt sich kein eindeutiger Gesetzeszweck dergestalt, die Prüfungskompetenz der Familienkassen bei Verlustfeststellungen der Freizügigkeitsberechtigung durch die Ausländerbehörde einzuschränken. Die in § 18f AZRG geregelte automatisierte Übermittlung der Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU bleibt entgegen der Ansicht der Familienkasse weiterhin sinnvoll und erforderlich. Eine entsprechende Mitteilung über eine Verlustfeststellung wird regelmäßig Zweifel der Familienkassen an der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten begründen und Anlass sein, in die eigenständige Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Ausländerbehörde einzutreten. Die Mitteilungen der Ausländerbehörde befreien die Familienkassen aber nicht von ihrer gesetzlich normierten eigenen Prüfungspflicht.

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(4) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die wortlautgetreue Auslegung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, wie gerade der Streitfall zeigt. Nachdem die Klägerin der Ausländerbehörde Nachweise ihrer Erwerbstätigkeit auch für den hier vorliegenden Streitzeitraum vorgelegt hat, hob die Ausländerbehörde die Verlustfeststellung der Freizügigkeit auf. Dass dies lediglich mit Wirkung ex nunc geschah, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen für die Freizügigkeit im gesamten Streitzeitraum erfüllt waren, so dass der Kindergeldanspruch insoweit ebenfalls zu bejahen ist.

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c) Entgegen der Auffassung der Familienkasse hat die Entscheidung der Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU jedenfalls bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs auch keine (echte) Tatbestandswirkung (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 62 EStG Rz 13; vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 62 Rz 48.5; a.A. Avvento in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 62 Rz 5; Bauhaus in Korn, § 62 EStG Rz 31.4). Eine solche Feststellung kann zwar regelmäßig ausreichen, um Zweifel an dem Bestehen der Freizügigkeit zu begründen (s. II.3.b cc). Aufgrund der eigenen Prüfungskompetenz der Familienkasse kann diese eine Versagung des Kindergeldanspruchs aber nicht allein auf die Entscheidung der Ausländerbehörde stützen. Entscheidend abzustellen ist vielmehr darauf, ob der Kindergeldberechtigte tatsächlich nach § 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist.

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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.

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Ausnahmeregelung beim Mindestlohn für Erntehelfer debattiert

Am 26.06.2024 wurde im Bundestag in 1. Lesung der Antrag „Unsere Bauern retten – Ausnahmeregelung beim gesetzlichen Mindestlohn für ausländische Erntehelfer bei heimischen Obst-, Gemüse-, Wein- und Hopfenanbau einführen“ (BT-Drucks. 20/11940) debattiert und im Anschluss an die Ausschüsse überwiesen.

Deutscher Bundestag, Mitteilung vom 26.06.2024

„Unsere Bauern retten – Ausnahmeregelung beim gesetzlichen Mindestlohn für ausländische Erntehelfer bei heimischen Obst-, Gemüse-, Wein- und Hopfenanbau einführen“, lautete der Titel eines Antrags der AfD-Fraktion (20/11940), der am Mittwoch, 26. Juni 2024, im Bundestag beraten wurde. Im Anschluss an die Debatte überwiesen die Abgeordneten die Vorlage an die Ausschüsse. Die Federführung bei den weiteren Beratungen übernimmt der Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Quelle: Deutscher Bundestag, Textarchiv

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Hofübergaben in der Land- und Forstwirtschaft: Neuregelung der Abfindung geplant – Bundesregierung beschließt Gesetzentwurf

Die Bundesregierung hat am 26.06.2024 einen vom BMJ vorgelegten Gesetzentwurf zur Reform der Höfeordnung beschlossen.

BMJ, Pressemitteilung vom 26.06.2024

Die Bundesregierung hat heute einen vom Bundesminister der Justiz vorgelegten Gesetzentwurf zur Reform der Höfeordnung beschlossen. Die Höfeordnung gilt in den Bundesländern Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Sie trifft Regelungen für die Vererbung von land- und forstwirtschaftlichen Betrieben (Höfen). Ihr Kernanliegen ist es, die Höfe von einer Generation auf die nächste geschlossen übergeben zu können und damit eine Zerschlagung von Höfen im Erb- oder Übergabefall zu verhindern. Um dies zu erreichen, sieht die Höfeordnung vor, dass lediglich ein Familienmitglied zum Hoferben berufen ist; für die übrigen Familienmitglieder (die sog. weichenden Erben) bestimmt die Höfeordnung eine gesetzliche Mindestabfindung. Der Gesetzentwurf sieht neue Regeln für die Abfindung vor. Anlass für die Neuregelung ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2018, in der die Einheitsbewertung für die Bemessung der Grundsteuer für verfassungswidrig erklärt wurde.

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann erklärt hierzu:

„Das Rückgrat unserer Landwirtschaft ist der familiengeführte Betrieb. Deshalb ist das Anliegen der Höfeordnung so wichtig: Es geht um einen guten Generationenwechsel. Höfe sollen geschlossen an einen Hoferben übergeben werden können. Man soll sie nicht zerschlagen müssen, wenn der Übergang auf die nächste Generation ansteht. Wir halten an den bewährten Prinzipien der Höfeordnung fest. Zugleich stellen wir die Regeln über die Berechnung der Abfindung auf eine sichere Grundlage. Hofübergaben erfolgen in der Regel einvernehmlich und unter Lebenden. In diesen Fällen ist es wichtig, dass es für die Berechnung der Abfindung einen leicht zu ermittelnden und angemessenen gesetzlichen Richterwert gibt. Dafür werden wir mit unserer Reform sorgen. Bei der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfs haben wir uns eng mit der Landwirtschaft abgestimmt. Denn wir haben ein gemeinsames Anliegen: Wir wollen, dass die Höfeordnung zukunftsfest ist – und der Generationenwechsel in der Landwirtschaft auch künftig gut gelingt. Es geht uns um Planbarkeit und Stabilität für familiengeführte Höfe.“

Auch nach der Neuregelung der Höfeordnung soll es möglich sein, land- und forstwirtschaftliche Betriebe innerhalb der Familie geschlossen an einen Erben, den Hoferben zu übertragen, während die übrigen Familienmitglieder eine gesetzlich festgelegte Mindestabfindung erhalten. Mit der Neuregelung soll insbesondere erreicht werden, dass betroffene Hofbesitzer und ihre Familien einfach feststellen können, ob der Hof der Höfeordnung unterliegt – und welche Abfindung beim Übergang fällig ist.

Im Einzelnen sieht der Entwurf für ein Gesetz zur Änderung der Höfeordnung und zur Änderung der Verfahrensordnung für Höfesachen folgende Inhalte vor.

1. Feststellung der Hofeigenschaft nach dem Grundsteuerwert A

Auch künftig soll die Höfeordnung nur auf land- und forstwirtschaftliche Betriebe ab einer bestimmten Größe (Höfe im Sinne der Höfeordnung) Anwendung finden. Künftig sollen betroffene Eigentümer durch einen Blick auf ihren Grundsteuerbescheid ohne weitere Transaktionskosten die Hofeigenschaften feststellen können. Höfe im Sinne der Höfeordnung sind bislang solche, die einen Wirtschaftswert von mindestens 10.000 Euro haben. Künftig soll die Hofeigenschaft bei einem Grundsteuerwert des Betriebs der Land- und Forstwirtschaft (Grundsteuerwert A) von mindestens 54.000 Euro angenommen werden. Wie bisher soll es außerdem möglich sein, Höfen durch positive Hoferklärung die Hofeigenschaft zuzuweisen. Bislang setzt eine solche Hoferklärung einen Wirtschaftswert von wenigstens 5.000 Euro voraus. Die Schwelle hierfür soll künftig auf 27.000 Euro festgelegt werden. Ab diesen Werten kann die Wirtschaftlichkeit der Betriebe angenommen werden. Sie rechtfertigt die Anwendung von den Sonderregeln der Höfeordnung.

2. Mindestabfindung wird auf das 0,6-fache des Grundsteuerwerts A festgesetzt

Der Hofeswert (inklusive Wohngebäude), aus dem sich die Mindestabfindung der weichenden Erben errechnet, soll künftig das 0,6-fache des Grundsteuerwerts A betragen. Damit wird die Berechnung der Abfindung auf einen leicht ermittelbaren und zukunftsfähigen Wert gestützt. Sichergestellt werden soll so, dass die weichenden Erben eine angemessene Beteiligung am wirtschaftlichen Wert des Hofes erhalten – und zugleich keine Überforderung des Hoferben eintritt. Es ist zu erwarten, dass durch die Neuregelung durchschnittlich eine deutliche Erhöhung des Hofeswerts erfolgen dürfte. Liegen im Einzelfall besondere Umstände vor, wird es auch künftig möglich sein, nach billigem Ermessen Zuschläge oder Abschläge an der Abfindung vorzunehmen (§ 12 Absatz 2 Satz 3 HöfeO).

3. Höherer Schuldenabzug möglich

Gleichzeitig mit der zu erwartenden durchschnittlichen Erhöhung des Hofeswerts sieht der Gesetzesentwurf eine Erhöhung des Schuldenabzugs vor. Bisher verringern Verbindlichkeiten, die auf dem Betrieb lasten, den Hofeswert, der für die Übergabe und die Abfindung relevant ist, um höchstens zwei Drittel. Künftig können bis zu 80 % des Hofeswert aufgrund von Verbindlichkeiten abgezogen werden. Dadurch wird der Erhalt von Betrieben, die wirtschaftlich sind, aber auf denen hohe Verbindlichkeiten lasten, gestärkt.

Quelle: Bundesministerium der Justitz

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BGH: Falsch geführte E-Akte führt zu Urteilsaufhebung

Missachtet ein Zivilgericht die Formvorgaben für ein „Protokollurteil“ (insbes. §§ 540, 313a ZPO), so kann ein solches Urteil den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen. Der BGH fand in einem Verfahren, in dem die Akte elektronisch geführt wurde, nun sehr viele Verletzungen dieser Formvorschriften – und verwies den Fall zurück ans Berufungsgericht (Az. VIII ZR 15/24). Darauf weist die BRAK hin.

BRAK, Mitteilung vom 27.06.2024 zum Beschluss VIII ZR 15/24 des BGH vom 14.05.2024

Gehörsverletzung: Nutzen Zivilgerichte die Möglichkeit eines sog. Protokollurteils, müssen sie viele Vorschriften beachten, wenn das Urteil halten soll.

Missachtet ein Zivilgericht die Formvorgaben für ein „Protokollurteil“ (insbes. §§ 540, 313a ZPO), so kann ein solches Urteil den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen. Der BGH fand in einem Verfahren, in dem die Akte elektronisch geführt wurde, nun sehr viele Verletzungen dieser Formvorschriften – und verwies den Fall zurück ans Berufungsgericht (BGH, Beschluss vom 14.05.2024, Az. VIII ZR 15/24).

Im Rahmen einer mietrechtlichen Zahlungs- und Räumungsklage hatte das LG Stuttgart die Berufung großteilig zurückgewiesen (Urteil vom 26.01.2023, Az. 5 S 110/22). Die zu dem Verfahren gehörige Akte wurde elektronisch geführt. Die mitwirkenden Richter signierten das Urteil, das lediglich Rubrum und Entscheidungsformel enthielt, am Ende der Sitzung mit elektronischer Signatur. Es wurde darauf hingewiesen, dass auf die Darstellung des Tatbestands und die ausführlichen Entscheidungsgründe verzichtet wurde, da ein Rechtsmittel gegen das Urteil eindeutig unzulässig ist und der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe bereits im Protokoll der mündlichen Verhandlung festgehalten wurde. Das vorläufig aufgenommene Protokoll enthielt dann kurze rechtliche Erwägungen. Das Sitzungsprotokoll wurde aber erst nach Fertigstellung als elektronisches Dokument allein von der Vorsitzenden Richterin signiert. Zudem waren darin die Namen der Parteien nur mit einem Kurzrubrum angegeben.

Das Sitzungsprotokoll und das Urteil waren in der Gerichtsakte jeweils als gesonderte elektronische Dokumente vorhanden, nicht jedoch miteinander verbunden. Die Beklagte rügte daraufhin die Verletzung mehrerer Formvorschriften – und bekam nun Recht vor dem BGH. Die Entscheidung verletze den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör.

Das LG habe die Voraussetzungen der §§ 313a Abs. 1, § 540 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 ZPO missachtet: Das Urteil sei zunächst nicht mit einem formgerechten Sitzungsprotokoll verbunden. Es lasse daher nicht erkennen lässt, dass sich das Gericht mit dem Vorbringen der Beklagten in der Berufungserwiderung befasst habe.

BGH: Berufungsgericht missachtete viele Formvorschriften

Das Berufungsurteil enthalte entgegen § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO keinerlei Tatsachenfeststellungen zu den ersten beiden Instanzen. Dieser Mangel sei nicht durch das Sitzungsprotokoll behoben worden. Bereits darin liege ein Verstoß gegen § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO. Es stimme auch nicht, dass gegen das Berufungsurteil unzweifelhaft kein Rechtsmittel statthaft sei – dies sei aber Voraussetzung, um von Tatsachenfeststellungen abzusehen. Aus diesem Grund hätten die Richter auch nicht auf die rechtliche Begründung verzichten dürfen.

Die vom Berufungsgericht in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen rechtlichen Erwägungen seien dabei nicht zu berücksichtigen. Diese seien weder Bestandteil des am Schluss der Sitzung verkündeten Berufungsurteils geworden, noch erfülle das Sitzungsprotokoll für sich betrachtet die Anforderungen an ein (eigenständiges) Protokollurteil im Sinne des § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO.

Ein Protokollurteil müsse alle nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Bestandteile enthalten, von den mitwirkenden Richtern unterschrieben und mit dem Sitzungsprotokoll verbunden sein. Insoweit reiche es nicht aus, wenn die Richter die Urteilsformel unterschreiben, dieses Schriftstück aber erst viel später mit dem Sitzungsprotokoll verbunden werde. Vielmehr müsse das – aus mehreren Teilen bestehende – Protokollurteil schon im Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter in vollständiger Form abgefasst sein. Hier aber sei das Sitzungsprotokoll zunächst nur vorläufig aufgezeichnet und erst nachfolgend als elektronisches Dokument erstellt worden. Zudem fehle es – bis heute – an der Verbindung von Sitzungsprotokoll und Urteil. Der Hinweis im Berufungsurteil auf das Sitzungsprotokoll genüge hierfür nicht. Die Verbindung beider Urkunden könne auch nicht mehr nachgeholt werden, weil seit der Verkündung des Berufungsurteils mehr als fünf Monate verstrichen sind.

Das Sitzungsprotokoll erfülle schließlich auch für sich betrachtet nicht die Anforderungen an ein Prozessurteil. Es enthalte weder die erforderlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO noch sämtliche nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Angaben. Die Parteien seien im Sitzungsprotokoll mit der Nennung lediglich ihrer Familiennamen nicht ausreichend bezeichnet. Die Urteilsformel sei im Sitzungsprotokoll nicht enthalten; dort werde lediglich auf „den entscheidenden Teil“ des aus einer Anlage zum Protokoll ersichtlichen Urteils verwiesen. Zudem sei das Sitzungsprotokoll allein von der Vorsitzenden Richterin signiert worden anstelle von allen mitwirkenden Richtern.

Quelle: Bundesrechtsanwaltskammer

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Thüringer SARS-CoV-2-VO: Verlängerung der Regelung zur Anordnung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen nicht geimpfter und nicht genesener Personen war verfassungswidrig

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat in dem auf Antrag der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag eingeleiteten Normenkontrollverfahren VerfGH 4/22 entschieden, dass die Verlängerung der Regelung zur Anordnung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen nicht geimpfter und nicht genesener Personen verfassungswidrig war.

VerfGH Thüringen, Pressemitteilung vom 26.06.2024 zum Urteil VerfGH 4/22 vom 26.06.2024

Antrag im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle bezüglich einzelner Regelung der Thüringer Verordnung zur Regelung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 (ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO) vom 21. Januar 2022

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat in seinem am 26.06.2024 verkündeten Urteil in dem auf Antrag der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag eingeleiteten Normenkontrollverfahren VerfGH 4/22 entschieden, dass die Verlängerung der Regelung zur Anordnung nächtlicher Ausgangsbeschränkungen nicht geimpfter und nicht genesener Personen verfassungswidrig war.

Die angegriffene Corona-Verordnung, mit der unter anderem die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen im Januar 2022 verlängert worden waren, genügte nicht den formellen Begründungsanforderungen. Bei der Verlängerung von bereits langandauernden und mit gravierenden Grundrechtseinschränkungen verbundenen Maßnahmen wie den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen war es unerlässlich, dass – soweit trotz veränderter Sachlage von der Möglichkeit der Übergangsregelung des § 28a Abs. 9 IfSG (weiter) Gebrauch gemacht wurde – die tatsächlichen Grundlagen für die fortbestehende Notwendigkeit einer solchen Maßnahme formal hinreichend deutlich aus der Verordnungsbegründung hervorgehen.

Die Regelung zu den nächtlichen Ausgangsbeschränkungen war zudem wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf körperliche Bewegungsfreiheit verfassungswidrig. Für die Anordnung von Ausgangsbeschränkungen auf der Grundlage des § 28a Abs. 9 IfSG galt zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses ein besonders strenger Rechtfertigungsmaßstab, da der Bundesgesetzgeber zu diesem Zeitpunkt die gesetzgeberische Entscheidung getroffen hatte, dass Ausgangsbeschränkungen grundsätzlich nicht mehr zulässig sein sollten. Der geringe Beitrag zur Pandemiebekämpfung, den die mit einer Vielzahl von Ausnahmegründen versehenen und damit in ihrer Wirkung ganz erheblich reduzierten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nach § 28 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO zu leisten imstande waren, vermochte die Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung gegenüber den nicht von den Ausnahmetatbeständen erfassten Personen nicht mehr aufzuwiegen.

Im Übrigen hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof den Normenkontrollantrag, der sich gegen eine Vielzahl weiterer Vorschriften der damaligen Corona-Verordnung richtete, als unzulässig verworfen. Die Antragstellerin ist insoweit den verfassungsprozessualen Darlegungsanforderungen nicht hinreichend nachgekommen.

Quelle: Thüringer Verfassungsgerichtshof

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